Interview zum Wahljahr 2024

Großkuchener CDU-Politikerin Inge Gräßle: „Der Bundestag muss ein stärkeres Parlament werden“

Inge Gräßle war schon Kreisrätin, Landtagsabgeordnete, Europaabgeordnete und ist heute im Bundestag. Wie bewertet sie unsere Parlamente – und die Volksvertretung von den Kommunen bis nach Europa?

Ganz allein ist Inge Gräßle nicht, aber der Club ist exklusiv. Kaum ein Dutzend Politiker im Land kennen sowohl den Landtag als auch den Bundestag und das Europäische Parlament von Innen. Gräßle war früher auch noch kommunalpolitisch tätig. Was liegt im Wahljahr 2024 näher als ein Vergleich aus berufenem Munde?

Frau Gräßle, als Parlamentarierin müssen Sie laut Volksmund ja vor allem „im Parlament sitzen“. Also eine Möbelfrage: Wo sitzt man am besten? Landtag, Bundestag, Europäisches Parlament?

Diese Frage kriege ich zum ersten Mal gestellt, ich muss nachdenken: Ich glaube, da gewinnt der Bundestag, da hat man verstellbare Sessel und muss nicht immer aufrecht sitzen. In Brüssel waren die Sitze ziemlich durchgesessen, und in Straßburg roch das Leder streng. Als ich im Landtag war, waren die Stühle furchtbar. Aber dort wurde ja inzwischen alles umgebaut, es soll viel besser sein.

Nach 15 Jahren Europaparlament kamen sie 2021 in den Bundestag. Wie fühlte sich der Wechsel an?

Ich hatte ja schon allerhand mit dem Bundestag zu tun und habe mir keine Illusionen gemacht. Aber wenn man dann selbst erlebt, wie wenig Einfluss man als Abgeordnete im Bundestag hat, ist das im Vergleich zum Europaparlament wirklich heftig. In Europa schlagen die neuen Themen auf, da geht es auch um Datenschutz, Künstliche Intelligenz und ganz Europa. Da drehen Sie schon die ganz großen Räder. Dagegen ist der Bundestag schlicht kleinteilig. Viele halten die nationalen Parlamente für äußerst mächtig und das Europaparlament für einflusslos. In Wahrheit ist es aber genau umgekehrt – daher ist es so wichtig, wer jetzt ins Europaparlament gewählt wird.

"Viele halten die nationalen Parlamente für äußerst mächtig und das Europaparlament für einflusslos. In Wahrheit ist es aber genau umgekehrt."

Inge Gräßle

Aber die Bundespolitik ist für Deutschland doch auch entscheidend, oder?

Natürlich, aber die Frage ist doch, welche Rolle der Bundestag spielt. In Brüssel tut man sich bei Problemen oft zusammen, um die Kommission unter Druck zu setzen. Im Bundestag lässt die Teilung in Regierung und Opposition das gar nicht zu, das Parlament hat also keine Wucht. Die Regierung steht viel weniger unter der Fuchtel als in Europa.

Das klingt, als hätten Sie Berlin schon wieder satt.

Im Gegenteil! Ich sage das, weil der Bundestag besser werden muss. Er muss die Regierung besser kontrollieren und er muss sich besser darum kümmern, ob seine Gesetze vor Ort überhaupt anwendbar sind. Wissen Sie, da gewährt man allen Studierenden 200 Euro Heizkostenzuschuss und bemerkt nachher, dass man gar nicht weiß, wie man das den Leuten ausbezahlen soll. Das ist schlecht, und zwar unabhängig, wer gerade regiert oder in der Opposition ist.

Sie hatten es nach Ihrer Landtagszeit immer genossen, dass die politischen Farbenspiele im Europaparlament keine so große Rolle spielen. Jetzt ein Schritt zurück?

Im Bundestag ist es heute viel ideologischer, als es damals im Landtag war. Und der Landtag war viel effizienter, auch weil die Landesverwaltung einfach jeden Grashalm im Südwesten kennt. In Berlin können Sie eigentlich gar nicht direkt mit der Verwaltung reden, das ist alles viel umständlicher und hierarchischer.

In Europa haben Sie gegen Verschwendung und Korruption gekämpft. Kämpfen Sie jetzt für mehr Parlament im Bund?

Ohne meine Zeit in Brüssel würde ich solche Probleme gar nicht sehen, anderen Kollegen fällt das ja offenbar gar nicht auf. Der Bundestag muss sich verändern, und das ist eine meiner Aufgaben. Ich bin ja nicht allein, und auch das Verfassungsgericht wird helfen, es sind ja mehrere Klagen in Karlsruhe anhängig, bei denen es um das Verhältnis des Bundestags zur Regierung geht. Wissen Sie, da kommen ihnen am Montagabend 450 Seiten Vorlage auf den Tisch geflattert, am Dienstag geht das in die Fraktion und am Mittwoch in den Ausschuss. Sie haben keine Zeit, sich zu besprechen, sich schlau zu machen. In Brüssel würde niemand auch nur im Traum auf solche Fristen kommen. So kann man doch nicht arbeiten!

In unserem Land gilt die Idee des freien Mandats, im Alltag aller Parlamente gilt aber die Idee der Fraktionsdisziplin. Da fanden Sie das Europaparlament sicher auch besser?

Das Europaparlament war da freier, klar. Aber ich habe kein Problem mit der Linie meiner Partei. Und bei den vielen Themen muss man sich ja auch auf seine Fraktion verlassen, zumindest meistens. Politik ist – Gott sei Dank – arbeitsteilig.

"Der Bundestag muss die Regierung besser kontrollieren und er muss sich besser darum kümmern, ob seine Gesetze vor Ort überhaupt anwendbar sind."

Inge Gräßle

Haben Sie im Bundestag schon mal gegen die Unionsfraktion gestimmt?

Kommt vor. Beim Chancen-Aufenthaltsrecht war ich anderer Meinung. Wenn man jemanden nicht abschieben kann, sollte man ihm nicht auch noch verbieten, hier zu arbeiten.

Können Sie eine andere Meinung denn überhaupt mitteilen? Die CDU/CSU-Fraktion hat im Bundestag bald 200 Abgeordnete, das ist viel größer als der ganze Landtag von Baden-Württemberg. Kommt man da denn zu Wort in ein paar Stunden Fraktionssitzung?

Die Sitzungen dauern oft kaum 90 Minuten. Trotzdem kann man sich melden, wenn man die Haltung der Fraktion ändern will. Ich habe das auch schon getan, aber eigentlich bringt es ja nichts, weil die Ampelfraktionen ausnahmslos und aus Prinzip alles niederstimmen, was die Opposition auf den Tisch bringt.

Öffentliche Plenardebatten sind immer Schaukämpfe. Aber es gibt ja auch noch eine Arbeitsebene, in den Ausschüssen, auf dem Flur…

Im Landtag gab es das zu meiner Zeit tatsächlich, im Europaparlament erst recht. Aber im aktuellen Bundestag gibt es auch auf Ausschussebene derzeit keine Möglichkeit, dass sich zum Beispiel die CDU mit der Ampel für gemeinsame Lösungen zusammensetzen könnte. Früher soll es sowas auch in Berlin gegeben haben. Ich versuche das durchaus; bisher war es ergebnislos.

Aber es wird doch auch Pluspunkte geben im Bundestag. Sie haben jetzt zum Beispiel wieder einen konkreten Wahlkreis, sind deutlicher als Volksvertreterin sichtbar, näher dran an den Leuten.

Bitte die Kritik nicht missverstehen! So nahe dran an den Menschen wie im Landtag ist man in keinem anderen Parlament. Im Landtag habe ich den Kreis Heidenheim vertreten, elf Städte und Gemeinden. Im Europaparlament hatte ich 180 Städte und Gemeinden. Der Wahlkreis Backnang - Schwäbisch Gmünd mit seinen 34 Städten und Gemeinden ist da wieder viel kompakter. Den Leuten ist der Bundestag auch eher ein Begriff, und er erscheint vielen Leuten relevanter und damit vielleicht auch seine Abgeordneten. Naja, im Europaparlament habe ich jeden Tag 14 bis 16 Stunden gearbeitet, im Bundestag ist es deutlich weniger, obwohl ich gerne mehr machen würde. Mehr Bundestag.

Manche Menschen hätten gerne weniger Bundestag. Das Parlament ist Berlin hat sich auf 734 Abgeordnete aufgebläht, es ist größer als das Europäische Parlament und sogar die 1,4 Milliarden Inder haben ein kleineres Parlament. Ihre Meinung?

Die Diskussion über die Größe des Bundestags ist ziemlich irreführend und löst keine Probleme. Wir brauchen keinen größeren oder kleineren, sondern einen effizienteren Bundestag. Wir haben zum Teil überlange Debatten: Kürzlich habe ich eine Sitzung erlebt, in der zu ein und demselben Thema allein vier CDU-Abgeordnete sprachen, ich inklusive. Umgekehrt hat der Bundestag nur 21 Sitzungswochen im Jahr. Das Europaparlament hat doppelt so viele! Also: nicht mehr oder weniger, sondern bitte länger Bundestag, bei größerer Transparenz.

Dank der CDU kamen Sie einst in den Landtag, dank der CDU war dann aber auch Schluss. Die CDU half Ihnen dann nach Brüssel, nach 15 Jahren und als weithin geachtete Expertin gab Ihnen die CDU keinen anständigen Listenplatz mehr und beendete auch dieses Mandat. Ob die Wähler das so wollten, ist unklar. Müssen Parteien in den Parlamenten so wichtig sein?

Ja. Ohne die CDU wäre ich in kein Parlament gekommen, auch jetzt nicht in den Bundestag. Parteien könnten sicher offener sein für neue Ideen, die Ideologisierung im Bundestag ist furchtbar. Aber grundsätzlich fällt mir keine Alternative zu den Parteien ein. Fraktionen und Zusammenarbeit sind in Parlamenten immens wichtig. Und gerade die CDU hat viele Abgeordnete, die Direktmandate gewannen und nicht nur auf irgendwelchen Listenparteitagen ins Amt gehoben wurden. Diese Abgeordnete, mich eingeschlossen, sind unabhängiger. Allerdings haben wir nach wie vor zu wenig Frauen, zu wenig Leute mit Migrationshintergrund.

Die Größe der Parlamente haben wir abgehakt, bleibt noch deren Zahl an sich. Wir haben Gemeinderäte und Kreistage, Landtage, den Bundestag, das Europäische Parlament. Zu viele Parlamente?

Probleme machen eher die gemischten Zuständigkeiten. Bei der Bundeswehr reden weder der Landtag noch das Europäische Parlament mit, trotzdem ist es auch schwierig. Nehmen wir dagegen die Bildung: Von Haus aus klare Ländersache, doch die schaffen offensichtlich keine kohärente deutsche Bildungslandschaft. Und wenn wir Bildungs- und Berufsabschlüsse in Europa harmonisieren wollen, kommt halt auch noch die EU ins Spiel. Gefragt wäre da eine saubere Aufgabenverteilung und von der Bundesregierung mehr Vertrauen in die Arbeit der Länder und Kommunen.

Sie gelten als streitbar und ziemlich unerschrocken und haben sich in Europa auch mal mit kompletten Staatsregierungen angelegt. Wenn heute zunehmend über Bedrohung und Beschimpfung von Politikern berichtet wird – nimmt das zu oder ist das nur die berühmte Awareness, dass man also nicht mehr darüber schweigt?

Ich finde es gut, nicht zu schweigen. Ich habe mal eine Todesdrohung bekommen, das habe ich angezeigt, ich finde das darf man nicht tolerieren. Aber dass das über die 30 Jahre grundsätzlich zugenommen hätte, kann ich nicht feststellen.

Also soll man sich ruhig wählen lassen.

Unbedingt. Und man soll bitte auch wählen gehen, gerade auch bei der Europawahl. Das Europäische Parlament ist wirklich wichtig; es ist NICHT egal, wer da drinsitzt. Und es ist zu schade, um seine Stimme an kleinste Parteien oder Nonsenslisten zu verschenken.

"Wir haben nur dann ein vernünftiges Gemeinwesen, wenn es Leute gibt, die die Interessen aller vertreten und nicht nur die eigenen Interessen."

Inge Gräßle

Für die kommenden Kommunalwahlen hatten viele Parteien und Listen Mühe, Kandidierende zu finden. Es heißt, dafür müsse man geboren sein. Sie waren Journalistin, Pressesprecherin, zogen in den Kreistag ein und dann in alle Parlamente. Können Sie Leuten zu einem politischen Mandat raten?

Unbedingt! Das sage ich schon in Schulklassen: Lasst Euch aufstellen, geht in Parlamente – vom Ortschaftsrat bis ins Europaparlament. Engagiert Euch in Parteien. Nur dann bleiben wir eine lebendige Demokratie. Und wir haben nur dann ein vernünftiges Gemeinwesen, wenn es Leute gibt, die die Interessen aller vertreten und nicht nur die eigenen Interessen. Und es ist eine Riesenchance, etwas zu bewegen, egal ob im Gemeinderat oder im Bundestag. Auch wenn ich mir die Riesenchance im Bundestag noch etwas größer wünschen würde.

Zur Person Inge Gräßle

Dr. Inge Gräßle wurde 1961 in Großkuchen geboren. Nach dem Abitur in Heidenheim volontierte sie bei der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“, studierte Romanistik, Politik und Geschichte, war Pressesprecherin der Stadt Rüsselsheim und zog 1996 für die CDU und den Kreis Heidenheim in den Stuttgarter Landtag ein. Von 2004 bis 2019 war sie Europaabgeordnete. Nachdem sie ihr Mandat verlor, pflegte Gräßle in Großkuchen ihre Mutter und kehrte erst nach deren Tod in die Politik zurück. Bei der Bundestagswahl 2021 gewann Gräßle für die CDU das Direktmandat für den Wahlkreis Backnang-Schwäbisch Gmünd und wurde erneut Parlamentarierin. Gräßle ist entschieden ledig („keine Zeit“) und war unter anderem schon Vorsitzende der Frauen-Union Baden-Württemberg und in Heidenheim Mitglied des Kreistags, Kreisvorsitzende der CDU und Chefin des Roten Kreuzes. Inge Gräßle, in deren Pass eigentlich „Ingeborg“ steht, lebt heute in Berlin, Schwäbisch Gmünd und in ihrem Elternhaus in Großkuchen.

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