Gegen den Pflegenotstand

Warum in Heidenheim die Pflegeausbildung entgegen dem Trend boomt

Die Pflegeklassen an der Maria-von-Linden-Schule sind rappelvoll. Dass die Ausbildung im Landkreis Heidenheim entgegen dem Landestrend boomt, hat laut Schulleiterin Mireille Schöne gute Gründe.

Vorsichtig fährt Claudia Schrammer mit dem Waschlappen über den Arm der Pflegepuppe. „Achte auf die Hautfalten“, erinnert Pflegepädagoge Wolfgang Kurz die junge Frau sowie ihre beiden Mitschülerinnen Clarissa Richter und Madeleine Kammerer, die an der sogenannten Nursing Anne üben und arbeiten. Die Puppe bleibt, anders als echte Patienten, still und geduldig – sowohl beim Waschen als auch beim Messen von Puls und Blutdruck. Allerdings kann der menschenähnliche Roboter auch anders, wenn Wolfgang Kurz es im Regieraum will: Dann kann der Puls steigen oder der Herzschlag aussetzen, damit die Schülerinnen lernen, auch in Notfällen richtig zu reagieren. Der Landkreis Heidenheim hat für die Pflegeklassen an der Maria-von-Linden-Schule eigens diese hochmodernen Pflegepuppen angeschafft und damit die Voraussetzungen für eine fundierte und moderne Ausbildung verbessert.

Alltag und Notfälle: Heidenheimer Schülerinnen üben an der Simulationspuppe

Das ist laut Schulleiterin Mireille Schöne eines von vielen Puzzleteilen, die in Heidenheim die Attraktivität der Pflegeausbildung gesteigert haben. Denn die Klassen sind so voll wie nie zuvor. „Wir konnten in diesem Schuljahr nur mit Mühe und Not alle Bewerberinnen und Bewerber aufnehmen“, berichtet sie. Mit 32 Schülern pro Klasse ist die Kapazität vollständig ausgeschöpft. Derzeit sind 267 Schülerinnen und Schüler in Aus- oder Weiterbildung. Neben der dreijährigen Ausbildung zur Pflegefachkraft erleben auch die anderen Bereiche einen Aufschwung. Schöne nennt etwa die einjährige Ausbildung zur Altenpflegehelferin, in der 16- bis 50-Jährige gemeinsam lernen. Viele Frauen entscheiden sich nach der Familienphase für diese Ausbildung.

Mehrere zehntausend Euro hat der Landkreis Heidenheim in die Pflegepuppen investiert. Die Nursing Anne simuliert auch Vitalfunktionen, wie hier das Seniorenmodell. Foto: Rudi Penk

Heidenheimer Pflegeklasse mit Menschen aus 17 Nationen

Auch in der zweijährigen Ausbildungsklasse speziell für Migranten befinden sich so viele Schüler wie nie zuvor: Menschen aus 17 verschiedenen Nationen lernen hier gemeinsam. Hier überwiegt der Männeranteil, was ungewöhnlich für den Pflegebereich ist. Die Einrichtungen zeigten großes Interesse daran, Menschen aus anderen Ländern für die Arbeit und Ausbildung in Deutschland zu gewinnen, berichtet Schöne. Viele kommen aus Vietnam, Indien, Ghana und Kamerun. „Unsere Abteilungsleiterin führt Aufnahmegespräche digital in der ganzen Welt“, erklärt Schöne. Wegen des zusätzlichen Deutschunterrichts dauert diese Ausbildung zwei Jahre.

Zu Besuch in der Heidenheimer Maria-von-Linden-Schule: Für die generalistische Ausbildung braucht es alle Altersgruppen, auch Babys. Foto: Rudi Penk

Um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, wurden landesweit die Ausbildungsgänge Krankenpflege, Kinderkrankenpflege und Altenpflege in einer generalistischen Ausbildung zusammengeführt. Doch der erhoffte Effekt blieb aus: Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge zur Pflegefachkraft lag im Landesdurchschnitt im vergangenen Jahr ungefähr auf dem Niveau von vor der Reform im Jahr 2020.

Mireille Schöne: Heidenheim ist ein Modell-Landkreis

Warum gibt es diesen Ansturm in Heidenheim, während das Interesse am Pflegeberuf laut Zahlen des Statistischen Landesamtes anderswo eher verhalten ist? „Ich finde, dass wir in Sachen Pflege ein Modell-Landkreis mit Vorbildcharakter sind“, sagt Mireille Schöne. Sie beschreibt eine Mischung aus politischem Rückhalt und engagierten Akteuren. „Uns kommt zugute, dass wir ein kleiner Landkreis sind. Der Draht zwischen Politik, Verwaltung und Praxis ist kurz, und Ideen können schnell umgesetzt werden.“ Als ein Plus nennt Schöne die Pflegekoordinationsstelle, in der alle Fäden zusammenlaufen.

Auch die neu entstandene Zusammenarbeit zwischen den Pflegebetrieben sei förderlich. Für die Ausbildungsmesse haben sich Einrichtungen zusammengeschlossen und einen gemeinsamen Infostand von Klinik bis Altenpflege organisiert. Andere Landkreise interessierten sich bereits für dieses Heidenheimer Modell.

Ausbildungsbotschafter berichteten auf der Messe von ihrer Arbeit und versicherten den Jugendlichen sowie deren Eltern immer wieder: „Die Pflege ist nicht so schlimm, wie ihr das vielleicht in den Nachrichten hört.“ Vielen werde erst im Gespräch klar, dass man in der Pflege gutes Geld verdienen könne und dass es Aufstiegsmöglichkeiten gebe. Zudem seien die Einrichtungen im Landkreis sehr ausbildungsaffin, viele hätten Trainee-Programme eingeführt, um ihre Mitarbeitenden weiterzuentwickeln. „Oftmals ist es nicht das Geld, warum Menschen den Pflegeberuf aufgeben, sondern die Situation und die Rahmenbedingungen“, so Schöne.

Ernährung als zweiter Trend-Bereich

Vegan, Low Carb, Clean Eating: Ernährungstrends sind beliebter denn je. Das spiegelt sich auch im gestiegenen Interesse am Ernährungswissenschaftlichen Gymnasium wider. Mit 33 Schülerinnen und Schülern ist die Klasse randvoll, die meisten wählten das EG mit Priorität eins, wie Schulleiterin Schöne berichtet – früher war es eher die zweite Wahl.

Warum dieser Run aufs EG? „Das Thema Ernährung ist aktuell wichtiger denn je“, sagt Schöne. Katharina Maier und Charlotte Marx besuchen derzeit die Jahrgangsstufe 13 und sind überzeugte EG-lerinnen. Sie finden nicht nur das vertiefte Wissen über Ernährung und die Reaktionen im Körper spannend, sondern auch das wissenschaftliche Arbeiten im chemischen Labor. Chemie? Ein Horrorfach für viele? „Man fängt hier noch einmal ganz von vorne an, da kann jeder mitkommen“, erklärt Maier. Ähnlich wie in der Pflege sticht auch das EG in Heidenheim mit seinem Boom heraus. „Es gibt Standorte, bei denen das EG auf der Kippe steht“, berichtet Schöne.

Derzeit besuchen rund 870 Schülerinnen und Schüler die Maria-von-Linden-Schule, obwohl die Schule ursprünglich für 400 Schüler ausgelegt war. Die vom Landkreis geplante Erweiterung soll hier für mehr Platz sorgen.

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