Es war der eine Tag, der alles ändern sollte. Veronika Schürle, damals Studentin in Stuttgart, besuchte einen Vortrag zum Thema Menschenhandel. An diesem Abend wurde ihre Vorstellung der rechtsstaatlichen und heilen Republik mit einem dunklen Schleier belegt.
„Das hat mich nie mehr losgelassen“, sagt die 48-Jährige heute. Dass es in Deutschland organisierte Ringe geben soll, die Menschen verkaufen und zwangsprostituieren, war für die junge Studentin unfassbar. Es machte sie traurig. Und wütend. Sie konnte nicht untätig bleiben.
Hilfe für Frauen in der Armutsprostitution
Was sich an diesen Abend anschloss, war ein selbstloser und beachtlicher Werdegang an Einsatz und Engagement für schwächere Menschen, die oft keine Stimme haben. Bis heute setzt sich Veronika Schürle mit ihren Hilfsorganisationen und -initiativen für Frauen in der sogenannten Armuts- und Elendsprostitution ein. Von ihrem Heimatort Bartholomä lenkt sie das Engagement. Ihr Netz spannt sich über Süddeutschland in die Welt.
Ihr Einsatz schlägt Wellen: Zusammen mit ihrer Tochter Eli Damyanova, die die Arbeit der Mutter unterstützt, nahm sie im Sommer eine Auszeichnung von Bundeskanzler Olaf Scholz entgegen. Zudem ist sie für den deutschen Engagementpreis nominiert, der Ende des Jahres vergeben werden soll.
Sie kennt Wunden und Wunder
Wenn Veronika Schürle von ihrer Arbeit spricht, redet sie nicht um den heißen Brei. Sie kennt die Fakten, sie kennt persönliche Geschichten und hat bereits vielen Frauen geholfen, die im sogenannten Rotlichtmilieu gefangen waren. Sie war auf der Straße unterwegs, führte Gespräche auf dem „Strich“ und hat bereits mit Zuhältern um die Herausgabe von Frauen verhandelt. Sie kennt Studien ebenso wie Bundestagsdebatten. Sie kennt Gesichter und Stimmen. Wunden und Wunder. Sie hat Einblicke in eine Welt, von der so mancher nicht einmal weiß, dass sie existiert.
Rückblende. Als gebürtige Bulgarin und damit Landsfrau vieler Betroffener hatte sie das Schicksal verschleppter und unter falschen Versprechungen nach Deutschland gelockter Frauen sehr berührt. Nach ihrer einschneidenden Konfrontation mit dem Thema Menschenhandel hatte sie sich als Übersetzerin beim Stuttgarter Gesundheitsamt angeboten. Das hatte Folgen.
Veronika Schürle: „Es passiert mitten unter uns“
Denn fortan war sie in Kontakt mit Frauen, die im Rotlichtmilieu ausgebeutet, misshandelt, verschleppt und für ein Leben lang traumatisiert werden. Veronika Schürle weiß: „Das alles passiert hier mitten unter uns.“
Auch im Kreis Heidenheim? Weil die Frauen zur Verschleierung von Ort zu Ort gebracht werden, lasse sich das Thema schwer lokalisieren. Der Ostalbkreis gelte aber als Umschlagplatz für Drogenhandel – und Prostitution. Konkrete Fälle gibt es. Veronika Schürle kennt sie.
Viele Frauen kommen aus Osteuropa
Die heute dreifache Mutter hatte zunächst begonnen, den Frauen privat zu helfen. Irgendwann kam dann mit Mitstreiterinnen der Entschluss, eine Hilfsorganisation zu gründen. „Damals gab es noch keine Strukturen, keinerlei Unterstützung für Frauen, die aussteigen wollten“, sagt die 48-Jährige.
„Die Frauen haben große Angst, sie sprechen oft kein Wort Deutsch, sind Analphabetinnen, haben kein Geld, kein Handy und oft keinen Pass“, erklärt Veronika Schürle. Viele Frauen kommen aus Osteuropa, Rumänien, Bulgarien – aus den Armutsregionen Europas.
Mit Tiktok-Videos aufklären und Plattform bieten
Zusammen mit weiteren ehrenamtlichen Helfern hat sie 2014 den Verein Esther Ministries gegründet. Es ist ein Ausstiegsprogramm für betroffene Frauen. Hier ist Veronika Schürle bis heute hauptamtlich als geschäftsführende Vorsitzende tätig. Die Mitarbeiter klären auf, gehen im Milieu auf Betroffene zu und leisten konkret Hilfe beim Ausstieg aus der Prostitution.
Ihre neueste Initiative, um niederschwelliger an die Frauen heranzukommen, ist das Projekt Rosa.SOS. „Wir versuchen hier über kurze Tiktok-Videos aufzuklären, die Frauen zu erreichen. Auch bei Facebook sind wir aktiv“, erklärt Veronika Schürle. „Wir wollen Transparenz schaffen, Vertrauen aufbauen und über die Lügen der Zuhälter aufklären.“ Und natürlich können Betroffene hier auch Hilferufe absetzen. Ganz niederschwellig.
Hotline wird aufgebaut: Kontakt rund um die Uhr
Im Aufbau befindet sich derzeit die Möglichkeit, per Hotline mit einer Beraterin in der jeweiligen Muttersprache in Kontakt zutreten. Das Angebot soll weiter ausgebaut und in Zukunft 24/7 zur Verfügung stehen. „Die Frauen haben manchmal nur kurz und teils mitten in der Nacht die Möglichkeit, an ein Handy zu kommen“, erklärt Veronika Schürle. Sie will rund um die Uhr ansprechbar sein.
Was sie motiviert? Sie hat unfassbares Leid gesehen. Gebrochene Knochen, abgeschnittene Finger, Stichwunden – den seelischen Schmerz, stille Schreie, die keine Bilder kennen, kann sie nur erahnen. Zeitweise hatte sie sich in Verwaltungsaufgaben zurückgezogen, weil sie die Bilder nur schwer verkraften konnte. Dass ihre Hilfe ankommt, dass sich etwas bewegt auch in der politischen Debatte, hilft ihr ungemein. Veronika Schürle: „Das gibt mir immer wieder die Kraft, weiterzumachen. Immer weiterzumachen.“
Zwangsprostitution und Menschenhandel
Laut dem Hilfsverein Esther Ministries floriert der Menschenhandel – er gelte weltweit als Verbrechen mit der höchsten Zuwachsrate. Aktuellen Schätzungen zufolge gebe es mehr als 27,6 Millionen Opfer von Zwangsarbeit. Sie werden wirtschaftlich oder sexuell ausgebeutet.
Bei sexueller Ausbeutung spricht man auch von Zwangsprostitution. Hierzu zählen Fälle, bei denen Menschen aus Armut oder auch unter Einfluss psychischer und physischer Gewalt gezwungen sind, sich zu prostituieren. Zwangsprostituierte sind nirgends erfasst. Verschleiert wird die Situation auch dadurch, dass die Betroffenen häufig den Aufenthaltsort wechseln. Der Grat zwischen legaler und illegaler Prostitution ist sehr schmal, die Dunkelziffer scheint hoch zu sein. Welche Parallelwelt es gibt, zeigen Zahlen. Vergangenes Jahr waren in Deutschland laut Esther Ministries 30.600 Prostituierte angemeldet. Schätzungen zufolge seien hier jedoch zwischen 150.000 und 700.000 Prostituierte tätig.
Deutschland wird oft als „Bordell Europas“ bezeichnet. Aktuell finden Debatten im Bundestag zur Prostitutionsgesetzgebung statt. Initiativen fordern eine strengere Handhabung und sehen in der liberalen Gesetzgebung den Grund für ein florierendes Geschäft.
Veronika Schürles Arbeit finanziert sich zum großen Teil über Fördergelder und Spenden. Wer helfen will, kann auf der Homepage www.freiheitfuerfrauen.de weitere Informationen erhalten.