In der westdeutschen Metallindustrie gilt die 35-Stunden-Woche bei gleichbleibendem Lohn bereits seit 1996. Bei der Deutschen Bahn soll sie nach der Einigung mit der Lokführergewerkschaft GDL schrittweise als Wahlmöglichkeit bis 2029 eingeführt werden.
Arbeitgeber fordern angesichts des Fachkräftemangels dagegen teilweise eine Rückkehr zur 40-Stunden-Woche.
Pro Arbeitszeitverkürzung
Nach Einschätzung von Oliver Stettes, Arbeitswelt-Experte beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW), kann es für einzelne Firmen sinnvoll sein, «kürzere Arbeitszeiten anzubieten, wenn dies wirtschaftlich tragfähig und organisatorisch umsetzbar ist, um seine Attraktivität für Bewerberinnen und Bewerber zu steigern». Ob dies zweckmäßig oder möglich sei, lasse sich aber nicht pauschal sagen.
Forscher Eike Windscheid-Profeta von der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung verweist auf positive Effekte kürzerer Arbeitszeiten wie geringere Fehlzeiten und höhere Motivation von Beschäftigten. Die 35-Stunden-Woche in der Metall- und Elektroindustrie habe sich Analysen zufolge zudem positiv auf die Produktivität ausgewirkt. «Weder die bestehenden Pilotierungen im Zusammenhang mit aktuellen Vorhaben rund um die 4-Tage-Woche respektive 32-Stunden-Woche (...) noch die Erfahrungen mit Arbeitszeitverkürzung in Deutschland in der Vergangenheit weisen darauf hin, dass hiermit Wohlstandsverluste einhergehen», fasst Windscheid-Profeta zusammen.
Der Arbeitszeitberater Guido Zander sagte in Interviews, verkürzte Arbeitszeitmodelle wie die Vier-Tage-Woche könnten in einzelnen Unternehmen und Branchen durchaus funktionieren. Allerdings laufe eine Maschine nicht automatisch schneller, nur weil jemand weniger arbeite und deshalb vielleicht motivierter sei. «Es kommt darauf an, was ich an Gegenrechnungseffekten habe: Wenn ich eine sehr hohe Krankenquote habe und berechtigt glauben kann, dass die runtergeht, wenn ich eine Arbeitszeitverkürzung mache, dann ist das natürlich ein Gegenfinanzierungselement», sagte Zander im Januar im SWR.
Kontra Arbeitszeitverkürzung
Stettes sieht gesamtwirtschaftlich keine Spielräume für kollektive Arbeitszeitverkürzungen. «Um zum Beispiel eine Verkürzung von 40 auf 32 Wochenstunden wirtschaftlich tragfähig zu gestalten, benötigen wir eigentlich einen Produktivitätszuwachs von 25 Prozent pro Arbeitsstunde», argumentiert der IW-Experte. Im vergangenen Jahrzehnt habe der Produktivitätszuwachs in der Gesamtwirtschaft aber jährlich bei durchschnittlich weniger als einem Prozent gelegen.
Hinzu kommt: «Wir werden durch den Renteneintritt der Babyboomer in den Ruhestand in erheblichem Ausmaß Arbeitsstunden verlieren, weil die Anzahl der nachrückenden Jahrgänge schlicht kleiner ist», sagt Stettes. Eine kollektive Arbeitszeitverkürzung würde diesen Rückgang noch verstärken. «Das senkt die Standortattraktivität, der bereits heute auch daran leidet, dass wir Fachkräfteengpässe haben.» Zugleich würden die Finanzierungsanforderungen an die Sozialversicherungen und bei öffentlichen Haushalten steigen, argumentiert der IW-Forscher: «Kollektive Arbeitszeitverkürzungen würden uns schlicht ärmer machen.»
Timo Wollmershäuser vom Ifo-Institut in München sagt, wenn einfach nur die Arbeitszeit pro Kopf verringert werde, koste dies im Endeffekt Wachstum. Deshalb sei entscheidend, dass eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit mit anderen Veränderungen einhergehe: etwa mit betrieblichen Maßnahmen, um die Produktivität pro Arbeitsstunde zu erhöhen.
Stefan Kooths vom Kieler IfW ergänzt, die derzeit aktive Generation könne sich keinen «ganz schlanken Fuß» machen, wenn es um das Abwägen zwischen Freizeit und Arbeit gehe - weil sonst die Abgabenquote immer weiter steigen müsse. Der Staat könne aber Anreize schaffen, dass sich Mehrarbeit stärker lohne. Damit könne er der Bewegung zu immer geringeren Arbeitszeiten entgegenwirken.
Forderung nach längeren Arbeitszeiten
Der Maschinenbauverband VDMA forderte angesichts des Fachkräftemangels unlängst eine schnelle Kurskorrektur. Eine generelle Verkürzung der Arbeitszeit könne sich Deutschland weder volkswirtschaftlich noch sozialpolitisch leisten – schon gar nicht bei gleichem Lohn, sagte VDMA-Hauptgeschäftsführer Thilo Brodtmann im Oktober. «Die 40-Stunden-Woche muss wieder der Normalfall sein».
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger hatte der Deutschen Presse-Agentur zu Beginn des Jahres gesagt: «Eine Vier-Tage Woche und dann noch bei vollem Lohnausgleich ist genau das Gegenteil von dem, was wir brauchen in einer Zeit des massiven Fachkräftemangels. Wir spüren alle, dass wir die Aufgaben nicht mehr bewältigt bekommen.» Nun als Lösung in Erwägung zu ziehen, dass alle noch weniger arbeiteten, führe zum falschen Ergebnis.
Arbeitszeitexperte Zander warb im SWR-Interview grundsätzlich für Vielfalt der Arbeitszeitmodelle - in beide Richtungen: «Wir sind in einer so komplexen Umwelt, dass zunehmend diese einfachen "One Size Fits All"-Modelle nicht mehr passen. Das wird immer suggeriert, und es kann passen, aber es muss nicht passen.»