Andere Sicht: Globaler Süden übt Kritik an Israel
Der Terrorangriff der islamistischen Hamas auf Israel und der Krieg im Gazastreifen haben die Welt tief gespalten. Vor allem im globalen Süden wird der Konflikt deutlich anders bewertet als in den Regierungszentralen von Washington, Berlin oder London. Aufgrund ihrer eigenen Geschichte sehen viele Menschen in Afrika und Lateinamerika die Ereignisse durch eine postkoloniale Brille: Für sie sind die Palästinenser vor allem Opfer der israelischen Besatzungspolitik.
«Viele Entwicklungsländer sehen in der Haltung des Westens in der Israel-Palästina-Frage den Beweis dafür, dass er internationale Regeln und Normen selektiv anwendet - je nach geopolitischen Interessen und nicht auf universelle Weise», schreibt der deutsch-brasilianische Politikwissenschaftler Oliver Stuenkel in der Fachzeitschrift «Foreign Policy».
Viele afrikanische Staaten haben das israelische Bombardement des Gazastreifens als Reaktion auf die Angriffe der Hamas verurteilt. Besonders in überwiegend muslimischen Ländern herrscht große Solidarität mit den Palästinensern. Neben einigen Statements, die ausdrücklich von Israel als «Unterdrücker» sprechen, fordern viele Regierungen ein Ende der Gewalt gegen Zivilisten und die Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung. Die Afrikanische Union hatte «die Verweigerung der Grundrechte des palästinensischen Volkes» als «Hauptgrund» des Konflikts bezeichnet.
Kritische Haltung
Allen voran nimmt Südafrika - eines der wirtschaftsstärksten und modernsten Länder Afrikas und damit Vorbild und Sprachrohr für viele Staaten des Kontinents – eine «radikale und äußerst kritische» Haltung gegenüber Israel ein, sagte Ran Greenstein, politischer Analyst der Universität zum Witwatersrand im südafrikanischen Johannesburg, der Deutschen Presse-Agentur.
Außenministerin Naledi Pandor bezeichnete Israels Reaktion auf den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober als «Kollektivbestrafung» der Palästinenser, die eine «fortwährende Tötung von Kindern und unschuldigen Zivilisten» einschließe. Südafrika spricht von Kriegsverbrechen durch israelische Streitkräfte, will seine Diplomaten aus Israel zurückrufen und droht mit einer möglichen Ausweisung des israelischen Botschafters.
Südafrikas Regierungspartei Afrikanischer Nationalkongress (ANC), die sich seit vielen Jahren für ein «freies Palästina» ausspricht, zählt oft Hamas-Vertreter zu ihren Gästen bei politischen Konferenzen. Gleichzeitig lebt in Südafrika nach Angaben des Jüdischen Weltkongress mit mehr als 75 500 Juden die größte jüdische Gemeinde Afrikas und die zwölft größte der Welt.
Strategischer Balanceakt
Südafrika – und vielen anderen Ländern des globalen Südens - gehe es letztendlich um einen strategischen Balanceakt, sagt Priyal Singh, Analyst des Instituts für Sicherheitsstudien (ISS). Einerseits habe man sich einer anti-kolonialen, anti-imperialistischen Weltsicht verschrieben; andererseits wolle man die guten wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen zu westlichen Nationen, die Israel in dem Konflikt unterstützen, wie Deutschland, die USA oder Großbritannien, nicht gefährden. «Es ist ein heikler Tanz zwischen Ideologie und Pragmatismus», so Singh.
Auch in Lateinamerika wird viel Kritik an dem israelischen Militäreinsatz im Gazastreifen laut. Die brasilianische Regierung verurteilte das Massaker der Hamas an Zivilisten in Südisrael vor gut einem Monat zwar, rief aber gleichzeitig «alle Parteien auf, größtmögliche Zurückhaltung zu üben, um eine Eskalation der Situation zu verhindern». Eine von Brasilien im UN-Sicherheitsrat eingebrachte Resolution scheiterte am Veto der USA, weil sie Israels Recht auf Selbstverteidigung nicht erwähnte.
Argentinien verurteilte die Angriffe der israelischen Streitkräfte auf zivile Infrastruktur und mahnte die Wahrung des humanitären Völkerrechts an. Jüdische Verbände in dem südamerikanischen Land kritisierten diese Position. Mit 175.000 Menschen ist die jüdische Gemeinschaft in Argentinien die größte in Lateinamerika.
Sympathie in Südamerika
Klar auf der Seite der Palästinenser stehen die linken autoritären Regierungen von Kuba, Venezuela und Nicaragua. Sie kritisieren den israelischen Militäreinsatz im Gazastreifen und relativieren die Gewalt der Hamas. Das kubanische Außenministerium bezeichnete den Konflikt als «Folge von 75 Jahren permanenter Verletzung der unveräußerlichen Rechte des palästinensischen Volkes und der aggressiven und expansionistischen Politik Israels». Venezuelas Präsident Nicolás Maduro warf Israel vor, ein System der Apartheid errichtet zu haben und im Gazastreifen Völkermord zu verüben.
Bolivien brach nach Beginn der Angriffe auf den Gazastreifen die diplomatischen Beziehungen zu Israel ab. Chile und Kolumbien beorderten ihre Botschafter zu Konsultationen zurück. Wie auch Südafrika bezeichnet Chile Israels Bombardierungen als «kollektive Bestrafung der palästinensischen Zivilbevölkerung». In dem südamerikanischen Land lebt die größte palästinensische Diaspora außerhalb des Nahen Osten.
Die Standpunkte der Länder des globalen Südens sind ernst zu nehmen, sagte Greenstein: «Ihre Haltung ist ein schwerer Schlag für Israels Versuch, seine Beziehungen zur arabischen Welt und den islamischen Ländern zu normalisieren». Vor Beginn des Gaza-Konflikts habe Tel Aviv noch daran gearbeitet, die Beziehungen mit Saudi-Arabien zu verbessern, was zu besseren Verhältnissen mit anderen islamischen Ländern wie Malaysia und Indonesien geführt haben könnte. «Das alles ist nicht mehr möglich. Der Konflikt verursacht bleibende Schäden, von denen es nahezu unmöglich sein wird, sich zu erholen», sagte Greenstein.