Leipzig (dpa) - Kann eine zivile Schreibkraft in einem Konzentrationslager Beihilfe zum NS-Massenmord in mehr als 10.000 Fällen geleistet haben? Über diese Frage verhandelt heute der Bundesgerichtshof (BGH). Der 5. Strafsenat in Leipzig muss entscheiden, ob ein Urteil gegen die inzwischen 99-jährige ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard F. Bestand hat.
Das Landgericht hatte sie im Dezember 2022 wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen sowie in fünf Fällen der Beihilfe zum versuchten Mord zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Ihre Verteidiger hatten dagegen Revision eingelegt.
Der Fall gilt als das womöglich letzte Strafverfahren zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Massenmorde. Irmgard F. war zwischen Juni 1943 bis April 1945 als Sekretärin im Geschäftszimmer des Kommandanten des KZ Stutthoff bei Danzig beschäftigt. Nach Überzeugung des Landgerichts Itzehoe hat sie durch ihre Arbeit den Verantwortlichen des Konzentrationslagers bei der systematischen Tötung von Inhaftierten Hilfe geleistet.
Verteidigung: Juristische Maßstäbe weiterentwickeln
Die Verteidiger der hochbetagten Frau, Wolf Molkentin und Niklas Weber, hatten die Revision damit begründet, dass wesentliche Rechtsfragen ungeklärt geblieben seien. Unter anderem habe das Landgericht nicht präzise dargelegt, wie vorsätzlich sich die Angeklagte an den Morden der SS beteiligt haben soll. Sie sei als zivile Schreibkraft in keine Befehlskette eingebunden gewesen.
«Das Landgericht hat zu Unrecht angenommen, dass sich der Fall bruchlos in die jüngere Rechtsprechung zu NS-Beihilfetaten einordnen lässt», erklärte Verteidiger Molkentin. Es sei nötig, die juristischen Maßstäbe weiterzuentwickeln.
Generalbundesanwalt sieht grundsätzliche Fragen
Der Generalbundesanwalt hat die mündliche Verhandlung in Leipzig beantragt. Demnach weist der Fall «grundsätzliche Fragen zur Strafbarkeit wegen Beihilfe zum Mord durch die Dienstverrichtung in einem Konzentrationslager» auf. Dabei sei auch von Bedeutung, dass das KZ Stutthoff kein reines Vernichtungslager gewesen sei. Über diese Konstellation habe der Bundesgerichtshof noch nicht entschieden.
Die angeklagte Irmgard F. wird nicht zur Verhandlung nach Leipzig kommen, wie ihr Anwalt Molkentin auf Anfrage mitteilte. Das muss sie auch nicht - anders als beim Landgericht, wo die Frau am ersten Verhandlungstag für Aufregung gesorgt hatte, weil sie frühmorgens aus ihrem Seniorenheim verschwunden war und von der Polizei gesucht wurde. Dem restlichen Prozess in Itzehoe hatte sie sich dann gestellt. In ihrem letzten Wort hatte sie Reue geäußert.
Entscheidung voraussichtlich erst im August
Der 5. Strafsenat wird ausführlich über die Revision beraten. Eine Entscheidung soll nicht mehr am Mittwoch fallen, sondern laut BGH entweder am 6. oder am 20. August verkündet werden.