Die Grenze erreicht: Besuch am Übergang Rafah
Seine erste Fahrt über die Grenze machte Mamduh Chalil Abu Dschasar in diesem Krieg vor zwei Wochen. Eine Granate war nahe der Schule explodiert, in der er und seine Familie Schutz gesucht hatten, und seine schwere Kopf- und Gehirnverletzung musste dringend behandelt werden. Das Krankenhaus in Al-Arisch in Ägypten ist besser ausgestattet als die im Gazastreifen, wo die Betten immer knapper und die Opfer immer mehr werden. Als einer von wenigen Hundert Verletzten durfte er heraus.
Seine zweite Fahrt über die Grenze machte Mamduh Chalil Abu Dschasar in diesem Krieg am Montag - zurück nach Gaza, denn er ist in Al-Arisch gestorben. Sein Sohn Hamada steht unter dem Torbogen des Grenzübergangs Rafah, neben ihm der neongelbe Krankenwagen mit der Leiche des Vaters. «Sein Wille war, in Gaza begraben zu werden», sagt Hamada. «Weil er dort geboren wurde und weil seine Familie dort ist und weil er an seinem Land hing.» Dann fahren sie rein.
Zwischen sicherem Hafen und Kampfzone
Rafah ist in diesen Wochen des Kriegs zwischen Israel und der islamistischen Hamas Symbol für so vieles. Der Flaschenhals für Hilfsgüter. Ein Ort der Hoffnung für Ausreisende und Geiseln. Die Lobby zum sicheren Hafen oder der Eingangsbereich zur Kampfzone - je nachdem, auf welcher Seite man steht.
Im gelegentlichen Auf und häufigen Ab des Nahost-Konflikts spiegelte Rafah auch die jeweilige politische Lage wider. In besseren Zeiten kamen Menschen und Waren aus und nach Gaza über die Grenze, dann wieder nicht. Seit die Hamas dort 2007 die Macht übernahm und Israel seine Blockade des Gebiets verschärfte, war die Grenze fast genauso viele Tage geöffnet wie geschlossen. Nach Kriegsbeginn am 7. Oktober ging wochenlang gar nichts, jetzt, während einer Feuerpause, kamen an einem Tag 200 Lkw nach Gaza.
Israel begründete seine strengen Kontrollen über Ein- und Ausfuhr stets damit, dass die Hamas isoliert sowie ihr Erstarken und der Waffenschmuggel verhindert werden sollen.
Zugleich kam die Welthandels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD) vor Kriegsbeginn zu dem Ergebnis, die Blockade habe die Wirtschaft Gazas ausgehöhlt und 80 Prozent der Bevölkerung abhängig gemacht von humanitärer Hilfe. Deshalb rollen die Lkw weiter, 500 täglich waren es vor dem 7. Oktober
Für Ägypten sind die Lastwagen eine Art tonnenschwerer Beweis, dass man den palästinensischen «Brüdern und Schwestern» zur Seite steht. Hunderte Lkw stehen aufgereiht entlang der Schnellstraße nach Rafah. «Das ist noch gar nichts», sagt Aiman Wallasch, Leiter des Pressebüros, das Journalisten zur Grenze eingeladen hat. Nicht weit entfernt landen in Al-Arisch Frachtflugzeuge aus Katar und dem Irak, Gabelstapler drehen ihre Runden und reihen die nächsten Paletten auf: Medizin, Reis, Winter-Sets, Matratzen. «Sie machen (in Gaza) dasselbe durch, was wir durchgemacht haben - Krieg, Terror», sagt ein Kapitän der irakischen Luftwaffe, dessen Maschine grad entladen wird.
Viel Hilfe rein, wenig Palästinenser raus
Was Wallasch nicht sagt, ist, dass Ägypten zwar viel Hilfe herein, aber wenig Palästinenser dauerhaft herauslassen will. Das Land hat anders als Jordanien, Syrien und der Libanon keine Flüchtlingslager für Palästinenser eingerichtet. Was Ägypten hat, ist eine kolossale Wirtschaftskrise, Hunderttausende Flüchtlinge etwa aus Syrien und dem Sudan und eine in weniger als zwei Wochen anstehende Präsidentschaftswahl.
Die Sorge, über Rafah könnten große Ströme der 2,2 Millionen in Gaza lebenden Menschen kommen, verknüpft Präsident Abdel Fattah al-Sisi mit nicht weniger als der Warnung, sein Land könnte eine neue Kriegsfront werden. Die «Kämpfe» gegen Israel würden dadurch nur in den Sinai umziehen, Ägypten würde zur Startrampe für neue Attacken gegen Israel und dann selbst zur Zielscheibe, so der Staatschef.
Wer als Palästinenser aus Gaza trotzdem über Rafah ausreisen will, muss sehr lange warten - oder viel Geld zahlen. Schon vor Jahren gab es Berichte aus Gaza über Vertreter von «Reisebüros» und «Maklern», die mutmaßlich mit ägyptischen Behörden gemeinsame Sache machen und Reisende für viel Geld auf VIP-Listen setzen. Die Preise sollen noch angezogen haben und bis zu 4500 Dollar pro Person betragen für eine garantierte Ausreise über Rafah. Eine achtköpfige Familie in Gaza berichtet, sie müsse 21.000 Dollar hinlegen. Also etwa das 15-fache des durchschnittlichen Jahreseinkommens eines Haushalts in Gaza.
Frischer Fisch und Autoteile
In - oder besser gesagt unter - Rafah hat man Erfahrung damit, sich auf inoffiziellen Wegen helfen zu lassen. Die Hamas begann nach 2007 damit, Hunderte Tunnel von Gaza nach Ägypten zu graben, um Israels Blockade zu umgehen. Waschmittel, Handys, frischer Fisch, Autoteile, ein Löwe für den Zoo - so ziemlich alles wurde unter Rafah geschmuggelt, was über Rafah nicht nach Gaza kam. Das Tunnel-Geschäft soll zu Hochzeiten 15.000 direkte Jobs ausgemacht und der Hamas jährliche Einnahmen in Millionenhöhe beschert haben.
Al-Sisi machte damit Schluss. Weil durch die Tunnel auch Waffen aus Gaza zu Extremisten in den Nord-Sinai gelangt sein sollen, wurde Rafah zum Sicherheitsproblem deklariert, zerstört und die Tunnel geflutet. 2000 Familien wurden vertrieben, militärische Pufferzonen errichtet und erweitert. Die Fahrt zur Grenze führt heute durch immer neue Checkpoints, einige Kilometer vor Rafah stehen Soldaten an etwa 50 Panzern auf einer Sandpiste bereit.
Auf dem Vorplatz der Grenze weht ein nasser Wind. Auch hier ging der Krieg nicht spurlos vorbei, etwa als Ägypten im Oktober erklärte, Israels Kampfflugzeuge hätten den Übergang viermal bombardiert und mehrere Grenzsoldaten leicht verletzt. Das israelische Militär sprach von einem Versehen und entschuldigte sich für den Vorfall. Aber jetzt herrscht Waffenruhe. Die Soldaten haben in Styroporboxen ihr Mittagessen empfangen und ziehen sich kauend in die Jeeps zurück.
Für Amr Mohsen beginnt dieser Alltag um 5.00 Uhr morgens. Dann stehen er und seine Kollegen hier mit ihren gelben Krankenwagen und warten, ob sie wieder ein paar Verletzte mitnehmen können. So wie ein Mädchen, das jetzt in Al-Arisch im Krankenhaus sitzt. Weißer Verband verdeckt ihren Kopf und Oberkörper, ihre schwer verletzte Gesichtshälfte hängt schlaff herunter. Vor ihrem Rollstuhl wedelt eine Krankenschwester mit einem Ballon herum, um sie aufzuheitern. Dass sie lebt, ist nicht zu erkennen.