«Ein Spinnennetz»: Das Tunnelsystem im Gazastreifen
Tiefe Krater sind auf Aufnahmen aus Dschabalia im Gazastreifen zu sehen. Als die Luftwaffe Israels bei der Jagd auf palästinensische Terroristen auch Teile des Flüchtlingsviertels zerstörte, rissen nach israelischen Armeeangaben eingestürzte Hamas-Tunnel Löcher in die Erdoberfläche.
Im sandigen Boden des rund 45 Kilometer langen und etwa sechs bis 14 Kilometer breiten Gazastreifens mit seinen mehr als zwei Millionen Einwohnern gibt es eine zweite Welt. Ein israelischer Armeesprecher beschrieb diese einmal als «Untergrund, die Metro oder die U-Bahn».
Ausmaße nicht zu beziffern
Häufig ist eine Zahl von Hunderten Tunneln auf insgesamt 500 Kilometern Länge zu lesen. Doch die Expertin für unterirdische Kriegsführung an der Reichman-Universität in Tel Aviv, Daphne Richemond-Barak, bezweifelte jüngst in der «New York Times», dass irgendjemand wisse, wie lang die Strecke tatsächlich sei.
«Ich glaube, dass die Hamas mit den 500 Kilometern ein wenig übertreibt, weil sie Israel von einer Invasion abhalten will», erklärte auch der Militärexperte Harel Chorev von der Universität Tel Aviv dem US-Sender CNN. «Wir reden hier von Dutzenden von Kilometern unter der Erde mit Kommando-, Kontroll- und Kommunikationsräumen, Vorratskammern und Abschussrampen für die Raketen.»
Teils sind die Tunnel betoniert oder mit Strom versorgt. Im Schnitt sind sie zwei Meter hoch und einen Meter breit, einige sind aber auch groß genug für Fahrzeuge. Um israelischen Bomben aus der Luft widerstehen zu können, reichen manche Dutzende Meter unter die Erde. Ihre Zugänge sollten etwa in Wohnhäusern oder Moscheen liegen.
Nach Erkenntnissen israelischer Geheimdienste betreibt die Hamas zum Beispiel unter dem Schifa-Krankenhaus, der größten Klinik im Gazastreifen, ihr Kommando- und Kontrollzentrum. Die Hamas bestreitet das. Und im November 2022 hat etwa das UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA scharf verurteilt, dass sich unter einer seiner Schulen ein Tunnel befindet.
Wozu das Untergrund-Netzwerk dient
Israel hatte sich 2005 einseitig aus dem Gazastreifen zurückgezogen, dabei aber ein Machtvakuum hinterlassen. Nach einem blutigen Kampf übernahm die Hamas 2007 die Kontrolle über das Küstengebiet. Als Reaktion verhängte Israel eine Blockade, die von Ägypten mitgetragen wurde. Die Abriegelung sollte die Einfuhr von Waffen und Material zum Waffenbau in den Gazastreifen erschweren. Seither hat die Hamas das verzweigte Netzwerk unter Tage immer weiter ausgebaut. Durch die Tunnel sollen Waffen in den Gazastreifen gebracht worden sein. Es heißt, dass auch Menschen irregulär die Grenze überqueren können, beispielsweise hochrangige Hamas-Funktionäre, ausländische Militärberater oder Kuriere mit Geldkoffern. Durch die Tunnel gelangen aber auch Lebensmittel, Konsumgüter, Autos und Treibstoff in den Gazastreifen. Die Hamas erhebt darauf nach Angaben von Einwohnern Zölle und finanziert sich auf diese Weise. Das Tunnelsystem bietet Hamas-Terroristen aber auch Schutz vor Luftangriffen und Verfolgung.
Experten nehmen an, dass auch die 242 Geiseln, die Hamas-Terroristen und andere Terrorgruppen am 7. Oktober aus Israel verschleppt haben, dort gefangen gehalten werden. Eine aus dem Gazastreifen am 23. Oktober freigelassene 85-Jährige beschreibt das System, durch das sie sich während der Geiselnahme bewegen musste, als «ein Spinnennetz».
Der Untergrund ist auch ein strategisches Mittel in einem möglichen Häuserkampf. Hamas-Kämpfer könnten wie aus dem Nichts hinterrücks angreifen. Die Tunnel selbst dürften mit Sprengfallen versehen sein.