El Niño: Ein Christkind mit Zerstörungskraft
In der menschengemachten Klimakrise steigt die globale Durchschnittstemperatur unaufhörlich, und mit verheerenden Folgen. Das heißeste Jahr seit Beginn der Industrialisierung war 2016, und das ist keine Überraschung: Zusätzlich zu dem langfristigen Trend war 2016 durch das Wetterphänomen El Niño geprägt. Es tritt natürlich alle paar Jahre auf und treibt die globale Durchschnittstemperatur oft zusätzlich nach oben.
Seit diesem Frühjahr steigen die Anzeichen für einen El Niño wieder – und wenn er kommt und stark wird, könnte die globale Durchschnittstemperatur schon in diesem oder im nächsten Jahr 2016 toppen, warnen Experten. Die Weltwetterorganisation (WMO) wollte am Dienstag erklären, ob El Niño nun voll im Gange ist oder nicht.
Was ist ein El Niño?
Erstes Anzeichen des Phänomens ist eine starke Erwärmung der oberen Wasserschichten im Pazifik in Tropennähe, entlang der mittel- und südamerikanischen Küste. Eigentlich drücken Passatwinde das warme Wasser nach Westen und kühleres strömt aus tieferen Schichten nach. Bei El Niño-Lagen sind die Winde aber schwächer. Der schnelle, bandförmige Windstrom Jetstream verschiebt sich Richtung Süden und die Stratosphäre mehr als zehn Kilometer über der Erde wird wärmer, wie Bob Leamon von der University of Maryland erklärt.
Das Gegenstück dazu ist La Niña, mit umgekehrten Vorzeichen. La Niña drückt auf die globale Durchschnittstemperatur. Eine ungewöhnlich lange dreijährige La Niña-Phase ist gerade zu Ende gegangen. Beide Phänomene passieren in unterschiedlichen Abständen alle paar Jahre.
Woher kommt der Name?
«El Niño» heißt übersetzt das Christkind. Der Name stammt von Fischern in Peru, die den Temperaturanstieg des Meeres oft in der Weihnachtszeit bemerkten.
Was sind die Folgen?
Das kommt auf die Weltregion an. Trockener und heißer wird es in der Regel etwa in Südostasien, im südlichen Afrika und in Australien. Dort steigt das Risiko von Wald- und Buschbränden. In Australien war der heißeste je gemessene Sommer die durch einen El Niño geprägte Jahreswende 2018/2019. Auch in Brasilien und dem nördlichen Teil Südamerikas wird es trockener, ebenso im mittleren Westen der USA, wo es deshalb in El Niño-Jahren oft besonders gute Getreideernten gibt. Feuchter wird es dagegen in Ostafrika, das gerade durch eine verheerende Dürre gegangen ist, ebenso an der Westküste Nord- und Südamerikas und in Sri Lanka vor der Südspitze Indiens.
Im Golf von Mexiko sinkt die Gefahr von Hurrikans, weil weniger Feuchtigkeit in der Luft ist. Über dem Atlantik auch, weil stärkere Scherwinde Hurrikane auseinanderreißen, so Leamon. Im Pazifik drohen dagegen mehr gefährliche Stürme.
Und Europa? «Der Fingerabdruck von El Niño ist auf den tropischen Pazifik konzentriert, mit spürbaren Auswirkungen auf den größeren Pazifikraum und entlang des Äquators, aber mit nur geringen Auswirkungen in Europa», sagt Helge Gößling vom Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven.
Was ist der Auslöser eines El Niño?
Die Wissenschaft weiß es noch nicht. Es gilt als natürliches Phänomen wie der Monsun, tritt allerdings in unregelmäßigen Abständen auf. Bekannt ist, dass die Stärke sowohl von El Niño als auch La Niña von anderen Phänomenen beeinflusst wird. Wenn die Passatwinde sich im Laufe des Jahres normalisieren, wie 2014, kann sich ein beginnender El Niño auflösen, wie Klimawissenschaftlerin Michelle L’Heureux von der US-Klimabehörde NOAA erklärt.
Dass das jüngste La Niña-Ereignis so lange dauerte, lag zum Beispiel mit an den schweren Bränden 2019/20 in Australien, glaubt John Fasullo vom National Center for Atmospheric Research im US-Bundesstaat Colorado. Rauch-Aerosole in der Atmosphäre hätten Sonnenlicht reflektiert, was über dem Pazifik Luftschichten und in der Folge die Meeresoberfläche kühlte.
Wieso steigt die globale Durchschnittstemperatur in El Niño-Jahren?
Das hat der Klimawissenschaftler Richard Allan von der Universität Reading untersucht. Zum einen zeigten 2015/16 Satellitenaufnahmen und Computersimulationen, dass sich mehr tiefe Wolken über dem Pazifik auflösten und mehr Sonnenlicht das Wasser zusätzlich erwärmte. Zudem binde die Atmosphäre deutlich mehr Wasser als in anderen Jahren. Bei starken El Niños könne das 3000 Kubikkilometer Wasser ausmachen, so viel wie 120 Millionen 50-Meter-Schwimmbecken. «Dies trägt dazu bei, die Heizkraft von El Niño weiter zu erhöhen, da Wasserdampf ein starkes natürliches Treibhausgas ist», so Allan.
Ist das Ziel, die Erwärmung möglichst auf maximal 1,5 Grad zu begrenzen, durch den aufziehenden El Niño in Gefahr?
Das Ziel ist zwar in Gefahr, aber das liegt nicht an El Niño. Es geht um unterschiedliche Dinge. Das 1,5 Grad-Ziel aus dem Pariser Klimaabkommen – dass Experten zufolge kaum noch zu erreichen ist – bezieht sich auf einen Durchschnittswert über mehrere Jahre.
Einzelne wärmere Jahre, die jetzt durch El Niño wahrscheinlicher sind, sind dafür nicht ausschlaggebend. Viele Wissenschaftler gingen schon vor den ersten Anzeichen für einen El Niño davon aus, dass die 1,5-Grad-Grenze demnächst in einem einzelnen Jahr überschritten wird. Danach dürften wieder kühlere Jahre kommen. 2022 lag die globale Durchschnittstemperatur laut WMO rund 1,15 Grad über dem Niveau von 1850-1900. 2016 waren es rund 1,3 Grad.
Wie stark wird der El Niño 2023?
Schwer zu sagen. Leamon von der Universität Maryland kommt mit seinen Modellrechnungen zu dem Schluss, dass das Phänomen in diesem Jahr eher im Sande verläuft und erst 2026 ein Super-El Niño droht.
Was bedeutet das für die Weltwirtschaft und die Menschen?
Nach den Berechnungen von US-Ökonomen brachten die El Niños 1982/83 und 1997/98 innerhalb von fünf Jahren jeweils bis zu 4,1 Billionen Dollar Verluste – verglichen mit einer Entwicklung ohne das Wetterphänomen. Das Analyseunternehmen Economist Intelligence Unit sieht bei einem starken El Niño in diesem Jahr ein großes Risiko für die Agrar- und Fischproduktion in Süd- und Südostasien. Das treibe Nahrungsmittelpreise in die Höhe.
Höhere Temperaturen könnten dort zu Energieengpässen mit Abschaltungen führen. Das beeinträchtige dann die Industrieproduktion. In Sri Lanka könnte stärkerer Regen die Teeproduktion beeinträchtigen, während die Feuchtigkeit gleichzeitig für mehr Dengue-Fieberfälle sorgen könnte. Das Analyseinstitut Fitch Solutions warnt vor Einbrüchen in der Getreideernte im südlichen Afrika.