Justiz

Freispruch für Polizei-Inspekteur: Viele Verlierern

Der Inspekteur der Polizei, dem sexuelle Nötigung vorgeworfen wurde, erhält einen Freispruch. Doch Jubelrufe gibt es auf keiner Seite. Der Fall hinterlässt einen Trümmerhaufen in Polizei und Politik.

Freispruch für Polizei-Inspekteur: Viele Verlierern

Genau 80 Minuten lang wird Volker Peterke den Freispruch erklären. 80 Minuten, in denen Zuschauer im Publikum immer wieder laut aufstöhnen, den Kopf schütteln, protestieren.

«Scheiße, Mensch!», ruft einer in breitem schwäbischen Dialekt, als der Richter im Namen des Volkes sein Urteil verkündet: Freispruch. Freispruch für den höchstrangigen Polizisten des Landes. Freispruch in einem #Metoo-Verfahren, wie es das Land noch nicht gesehen hat.

Im Zweifel für den Angeklagten

Es ist ein Freispruch zweiter Klasse, eine Bestätigung der Unschuldsvermutung, ganz nach dem Motto: im Zweifel für den Angeklagten. Aber nach allen Schmutzigkeiten, intimen Details und Grenzüberschreitungen, die der Prozess über den Inspekteur ans Licht brachte, ist ihm eine sexuelle Nötigung rechtlich nicht nachzuweisen.

Es ging in diesem Prozess – wie so oft, wenn sexuelle Übergriffe aufgeklärt werden sollen und Aussage gegen Aussage steht – um die Frage, wer der Täter und wer das Opfer ist. Hat der Inspekteur seine Machtstellung missbraucht, um seine sexuellen Vorlieben an einer Untergebenen auszuleben? Oder hat die 16 Jahre jüngere Kommissarin in jener Kneipennacht seine Nähe gesucht, um beruflich nach vorn zu kommen?

Ruf und Psyche zerstört

Am Ende, so viel ist klar, kennt dieser Fall nur Verlierer. Die Karriere der Anzeigenerstatterin ist zerstört, sie ist wegen psychischer Probleme seit Monaten krankgeschrieben. Der Ruf der baden-württembergischen Polizei ist nachhaltig beschädigt, ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss deckt derzeit immer gravierendere strukturelle Mängel im Beförderungswesen der Polizeispitze auf.

Die Gewerkschaft der Polizei fordert, das Amt des Inspekteurs abzuschaffen. Innenminister Thomas Strobl (CUD) gerät wegen des Durchstechens eines Anwaltsschreibens des Inspekteurs zeitweise enorm unter Druck.

Und der Inspekteur? Er mag freigesprochen sein, dafür kennt nun die ganze Welt seine außergewöhnlich anmutenden sexuellen Vorlieben, die alleine eine Rückkehr ins Amt schwer vorstellbar machen. Der Boulevard taufte den 50-Jährigen zum «Penis-Polizisten». Der Richter Peterke spricht am Freitag immer wieder von «Urinsex». Der Inspekteur habe sich aus eigenem Verschulden in die «verkorkste» Situation gebracht, bilanziert Peterke.

Unruhe im Gericht

Der Richter muss in der Urteilsbegründung immer wieder für Ordnung sorgen, klopft vor sich verärgert auf den Tisch, ruft «Ruhe! Ruhe! Ruhe!». Am Ende appelliert er: «Wichtig ist uns, dass wir mit unserer Entscheidung Opfer von Sexualstraftaten nicht von Anzeigen abhalten wollen, sondern im Gegenteil ermutigen wollen.»

Aber wichtig sei eben auch, dass Opfer von Sexualstraftaten Sachverhalte so berichteten, wie sie auch wirklich gewesen seien. Es dürfe nicht wider Erwarten ein Video auftauchen, das vorherigen Aussagen widerspreche. Und genau so war es in diesem Fall aus Sicht des Gerichts.

Rückblick

Innenministerium, 12. November 2021. Der Inspekteur und die damals 32 Jahre alte Polizistin sitzen bei ihm im Dienstzimmer und sprechen über ihre Karriere. Sie will in den höheren Dienst, er will sie fördern. Kollegen kommen und gehen, mehrere Flaschen Sekt fließen. Der Abend endet für die Polizistin und den Vorgesetzten bei einem Absacker in einer Eckkneipe im Stuttgarter Norden. Er erzählt ihr irgendwann, so ihre Version, dass er attraktiven Frauen gerne beim Pinkeln zuschaue. Eine Kamera über die Theke zeichnet die beiden auf, filmt, wie sie sich küssen und berühren.

Im Laufe der Nacht verschwinden die beiden gemeinsam fünf Minuten vor der Tür. Was hier geschieht, wird nicht gefilmt, ist aber Kern der Anklage: Er soll sie dort dazu gedrängt haben, sein Glied zu halten, während er gegen eine Hauswand pinkelt. Dass das passiert ist, streitet er nicht ab – er sagt aber, die Initiative dazu sei von ihr ausgegangen. Anschließend setzen sich die beiden wieder rein – und knutschen weiter.

Das Kneipenvideo ist für den Richter das entscheidende Beweismittel. Denn auf den verschwommenen Bildern sehen die Zärtlichkeiten einvernehmlich aus – und zwar über den kompletten Abend, auch nachdem die beiden von draußen zurückkehren. Von dem Ekel, von dem die Anzeigenerstatterin zunächst berichtete, sei nichts zu sehen, so der Richter. «Im Gegenteil», sagt er. Vielmehr sei sie geschmeichelt gewesen von der Gesellschaft des Inspekteurs, sie wirke so, als habe nicht nur er sie, sondern auch sie ihn attraktiv gefunden.

Der Richter zeichnet damit das Bild einer unglaubwürdigen Zeugin, die die Situation an dem Abend zulässt, ja sogar genießt, um danach die «Erzählung» einer sexuellen Nötigung zu erfinden – und zwar um einen eifersüchtigen Ex-Partner zu beschwichtigen. Der eigentlich verheiratete Kollege reagiert nämlich sehr eifersüchtig, als sie ihm tags darauf von der Nacht mit dem Inspekteur berichtet. Ihm gegenüber stellt sich die Polizistin als Opfer dar, die in der Situation gefangen war, wie gelähmt, unfähig, den Abend abzubrechen, weil sie um ihre Karriere fürchtete – so die Sicht des Richters.

Es folgt das Disziplinarverfahren

Der Fall ist nicht zu Ende. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und drei Monaten gefordert – und will das Urteil nun anfechten. Außerdem erwartet den vom Dienst freigestellten Inspekteur noch ein Disziplinarverfahren. Das ruhe aber, so das Innenministerium, bis alle Verfahren rechtskräftig abgeschlossen seien.

Der Inspekteur wirkt erleichtert, als er am Freitag das Gericht verlässt. Mit seiner Frau im Schlepptau – und ohne Kommentar.