Gregor Gysi über Sahra Wagenknecht, das Lügen und politische Verantwortung
Moral und Politik, der unehrliche machthungrige Politiker, die Inkompetenten - raunt es öfter in alltäglichen Gesprächen. Szenarien wie die Familientreffen, in denen es hitzige Debatten zur Weltpolitik gibt, bilden den Nährboden solcher Narrative. Was glauben Sie, wie legitim dieses Narrativ ist und woher kommt es?
„Das hat verschiedene Ursachen. Eine Ursache ist, dass die meisten Politikerinnen und Politiker von Parteien entsandt werden. Es kommt aber vor, dass die Politikerin oder der Politiker eine andere Auffassung hat als die Partei. Und da stehen die Politiker immer vor der Frage, ob sie sich dazu bekennen. Besonders jüngere Politiker übernehmen schnell den Standpunkt der Partei, aber das merken die Leute. Das zweite ist, dass es einen Strukturfehler gibt. Wenn die Regierung eine Entscheidung trifft, gibt es ja Beweggründe, diese zu treffen. Allerdings heißt dann oft der zweite Tagespunkt ‚Wie verkaufen wir es den Bürgerinnen und Bürgern?‘? Dabei hofft man, dass eine Mehrheit die Entscheidung mitträgt. Das kann mal der echte Beweggrund sein, ist es aber häufig nicht. Auch dadurch nimmt das Vertrauen in die Politik ab.“
Sind Politikerinnen und Politiker nicht in besonderer Verantwortung? Schließlich sind Politiker (zumeist) gewählte Vertreterinnen und Vertreter der Bürgerinnen und Bürger?
„Wir nennen uns Volksvertreter. Jetzt gibt es in internationalen Beziehungen auch die Situation, dass die Gegenseite darauf besteht, dass man öffentlich nicht darüber redet. Nur dann muss man (öffentlich) auch sagen, dass man nicht darüber redet, anstatt Dinge zu erzählen, die gar nicht Gegenstand des Gesprächs waren. Ein weiterer Fehler ist, dass die Bundesminister die politisch Verantwortlichen sind, aber oft nicht die Experten. Dafür gibt es meistens Staatssekretäre und Beamte, die die Experten sind. Wenn ich mich also als Minister ohne spezifischen Hintergrund öffentlich hinstelle und meine Entscheidung begründe, dann verliere ich doch an Glaubwürdigkeit, weil die Leute merken, dass ich kein Fachwissen zu diesem Thema habe. Aber diese Ehrlichkeit fehlt.“
Wie differenzieren Sie persönlich "die Lüge"? Gab es eine politische Lüge, welche Sie heute noch fassungslos werden lässt?
„Die dreisteste Lüge war, dass Bush behauptete, dass Hussein Massenvernichtungswaffen besäße und die USA daher berechtigt seien, einen Krieg gegen den Irak zu führen - und das war eben nicht wahr. Um einen Krieg beginnen zu können, zu lügen, finde ich ein extrem starkes Stück.“
Sie waren in zwei politischen Systemen aktiver Politiker. Gibt es Unterschiede struktureller Art, was die Ehrlichkeit von Politikern in autoritären Regimen wie der DDR im Vergleich zur demokratischen BRD betrifft? Wurde anders "gelogen"?
„Naja klar, in der DDR waren die Antworten ja vorgegeben, das lässt sich nicht vergleichen. Wirkliche politische Streitgespräche fanden öffentlich nicht statt, aber die Bevölkerung der DDR war sehr klug. Sie konnte immer zwischen den Zeilen lesen und ahnte meistens, was dahintersteckte. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR hatten die besondere Fähigkeit, die Dinge zu entschlüsseln, aber sie glaubten auch, dass sie in der BRD auf deutlich mehr Ehrlichkeit stoßen würden und wurden enttäuscht. Sie mussten feststellen, dass es so ehrlich, wie es versprochen wurde, nicht zugeht.“
Gerade populistische oder extreme Parteien reduzieren in der Erklärung von komplexen Zusammenhängen auf skurrilere Thesen oder plakative Aussagen und scheinen auch historisch betrachtet immer wieder erfolgreich zu sein. Andere erfinden gleich neue Realitäten, während andere ihre Meinungen und politischen Ziele an spezifische Menschengruppen anpassen. Viele Bürgerinnen und Bürger haben das Gefühl, gerade in komplexen Weltlagen keine Orientierung mehr zu finden. Warum neigen wir Menschen überhaupt zu komplexitätsreduzierten Erklärungen?
„Die Menschen haben Angst vor der Globalisierung. Alles wird internationaler, komplizierter und vernetzter. Viele Bürgermeisterinnen und Bürgermeister erklären oft, dass etwas wegen geltendem EU-Recht nicht ginge - manchmal stimmt es, manchmal ist es frei erfunden. Das können die Bürgerinnen und Bürger oft nicht nachkontrollieren. Parteien wie die AfD bieten rechtsextrem-nationalistisch an, alles national lösen zu können und damit auch die Weltprobleme in Deutschland zu lösen. Das ist zwar falsch, aber viele Menschen wählen nicht Realitäten, sondern Hoffnungen. Das Erstarken solcher Parteien und Personen ist aber eine Erscheinung, die wir international überall erleben.“
Was bringt es Politikerinnen und Politikern nicht gleich mit offenen Karten zu spielen, beispielsweise, wenn Spitzenpolitiker wie Frau Wagenknecht (vermutlich) eine neue Partei gründen möchte/wird? Gefühlt ahnt jeder, dass diese Partei kommen wird. Erzeugt das nicht ein Bild von Arroganz gegenüber dem Souverän, der ihr seine Stimme für vier Jahre gegeben hat?
„Wenn man wie Sahra Wagenknecht für eine Partei gewählt wird und bereits vor der Wahl die ganze Kritik gegenüber der Partei veröffentlicht, dann aber dennoch Spitzenkandidatin in Nordrhein-Westfalen wird und zur Wahl antritt, halte ich es für unmoralisch, das Mandat mitzunehmen. Ich bin überhaupt dagegen, dass sie die Partei verlässt, und werde versuchen, sie davon zu überzeugen, zu bleiben. Aber wenn das nicht gelingt und sie die Partei verlässt und eine neue gründen sollte, dann fände ich, dass sie das Mandat nicht mitnehmen darf – das wird sie aber dann dennoch tun.“
Welchen Anteil hat Social Media und die Informationsflut auf Politiker sowie Wählerinnen und Wähler und wie steht es um den Umgang mit Fake News und Bots?
„Ich habe mal darauf hingewiesen, dass, als Lauterbach vorschlug, Ordnungsgelder bei einer Impfpflicht zu verhängen, das bedeuten würde, dass Leute, die nicht geimpft sind, ins Gefängnis müssten, falls sie die Geldstrafen nicht bezahlen könnten. Dieser Satz sollte erklären, weshalb ich gegen die Impfpflicht bin. In den sozialen Medien wurde daraus gemacht, dass ich dafür bin, dass die Leute eingesperrt werden, also genau das Gegenteil von dem, was ich sagte. Ich musste damals eine Erklärung abgeben, weil viele das falsch vernommen hatten. Früher hatten wir zumindest ein ausgewogenes Verhältnis und Recht in Bezug auf die Medien, so dass sich alle darauf eingestellt hatten. Doch dann kam Social Media. Das Recht hinkt derzeit hinterher. Die Frage lautet: 'Wie können die Leute überprüfen, was wahr ist, und wie kann man gegen Bots, Fake News und andere Dinge vorgehen?' Aus meiner Sicht gibt es noch keine richtige Lösung und kein funktionierendes geltendes Recht im Umgang damit.“
Was muss Politik besser machen? Wie kann man auch strukturell einen Wandel hin zu mehr Transparenz und „Ehrlichkeit“ herstellen? Strukturell haben wir Korrektive wie u.a. den Journalismus, der Realitäten versucht objektiv wiederzugeben. Gibt es zusätzlichen Verbesserungsbedarf? Oder muss man sich sozusagen an der eigenen Nase packen und einen eigenen Kompass entwickeln?
„Politiker müssen sich selbst damit beschäftigen, aber zum anderen muss vor allem der Lokaljournalismus die Politikerinnen und Politiker zu den Themen in deren Wahlkreis befragen, damit sich diese nicht einfach nur wählen lassen und dann nichts für den Wahlkreis machen. Damit kann man sie gut ärgern. (lacht) Weiter könnte man das Wahlrecht ändern. Ich meine nicht die Wahlrechtsänderung der Ampel, die ich im Übrigen für grundgesetzwidrig halte. Es darf nicht nur genügen, dass man auf einer Liste einer Partei weit oben steht, sondern es wäre wichtig, eine direkte Verbindung zu den Wählerinnen und Wählern aufzubauen, um gewählt zu werden. Jede und jeder sollte auf der Liste drei Kreuze machen können, um die Reihenfolge zu verändern. Ansonsten entscheiden doch nur diese "Kungelrunden" bei Parteitagen, wer in den Bundestag kommt und wer nicht. Weiter könnte man über eine bestimmte Methode zum Volksentscheid nachdenken, die den Bürgerinnen und Bürgern mehr Verantwortung gibt. Wenn die Menschen in der Sache mehr entscheiden dürfen, werden sie sich auch wieder mehr für Politik interessieren.“
Aus Ihrem Leben – In welchen Situationen haben Sie aktiv gelogen, es mit der Wahrheit nicht ganz genau genommen oder Sachverhalte etwas blumiger ausgeweitet? Wie halten Sie persönlich es mit der Wahrheit als Politiker und woran orientiert sich Ihr moralischer Kompass?
„Zunächst einmal bin ich glücklich, dass ich bei den meisten als ehrlich gelte und es auch bin. Ich kann Ihnen aber sagen, dass in meiner Jugend ein Mädchen mehr von mir wollte als ich von ihr. Das ist sonst umgekehrt. Ich hatte aber keine Lust, das Wochenende bei ihr zu verbringen, und da habe ich gelogen. Am nächsten Tag hat sie mich aber erwischt, weil ich es natürlich schon wieder vergessen hatte. Und da habe ich mir im Nachhinein gedacht: Wer lügen will, muss sich seine Lügen wenigstens merken können. Seitdem habe ich eine gewisse Grundehrlichkeit.“
Jetzt wird es nochmals ernst: Also, keine Unwahrheit oder Lüge, die Sie zum Abschluss beichten möchten, Herr Gysi?
„Doch, natürlich hat es in meinem privaten Leben solche Momente gegeben, aber die erzähle ich Ihnen nicht. Aber im Fernsehen oder der Politik gibt es sie nicht, schon weil ich sie mir, wie gesagt, nicht merken könnte.“