Fußball-Nationalmannschaft

Kimmich wächst als Kapitän: Entpuppung eines Anführers

Beim Abschluss eines fast perfekten Länderspieljahres wollen alle dabei sein. Der Bundestrainer reist mit großer Gruppe nach Budapest. An Bord ist auch Kapitän Kimmich - als gereifte Führungskraft.

Natürlich stieg Joshua Kimmich in den Flieger nach Budapest. Auch nur auf die Idee zu kommen, der Kapitän der Fußball-Nationalmannschaft könnte seine leichte Knöchelblessur aus dem Sieben-Tore-Festival gegen Bosnien-Herzegowina als Ausrede für ein paar Tage Erholungspause nutzen, wäre irrsinnig. 

«Die Wahrscheinlichkeit bei Josh ist immer hoch, dass er viele Minuten sammelt, körperlich und vom Kopf her ist er immer in der Lage durchzuspielen, er ist einer, der nie eine Pause will», sagte Julian Nagelsmann über den Bayern-Profi. 

Zum Ende des großen Wende-Jahres der Nationalmannschaft vom Krisenteam zur Spaß-Combo hat sich gerade Kimmich nach mehreren Jahren Anlauf zur neuen, nun echten Leitfigur entpuppt. «Kapitän der deutschen Nationalmannschaft zu sein, ist für mich die größte Ehre. Ich fühle mich für das gesamte Team verantwortlich», beschrieb er sein Selbstverständnis als Spielführer - unabhängig von der Relevanz des Spiels. 

Den Flow transportieren

Die Ausgangslage für das letzte Länderspiel des EM-Jahres ist bekannt. Sportlich wird sich die Fußball-Welt durch den Ausgang der Partie am Dienstag (20.45 Uhr/ZDF) gegen Ungarn nicht verändern. Deutschland ist Gruppensieger und blickt mit großem Selbstvertrauen und ebenso großem Spaß dem Viertelfinale der Nations League im März entgegen. Der Flow soll ins Jahr 2025 mitgenommen werden. Ungarn muss als Dritter in die Abstiegsplayoffs, auch das ist fix. Früher hätte es vor so einer Reise reihenweise Absage gegeben. 

Umso bemerkenswerter ist es, dass Nagelsmann den Betriebsausflug nach Budapest mit großer Kaderstärke angehen konnte; es gab keine kollektive Kaderflucht wie bei vergleichbaren Anlässen - sogar der gelb-gesperrte Leverkusener Jonathan Tah war als Ungarn-Tourist dabei. Der Bundestrainer hatte zu Beginn des Lehrgangs einen Mentalitätswechsel hervorgehoben. «Am grundlegendsten verändert hat sich, dass alle da sind, trotz Wehwehchen. Alle haben Lust zu spielen», sagte der Chefcoach. 

Alle wollen dabei sein. Auf Kimmich traf das schon immer zu. Nicht umsonst haftete ihm negativ ausgelegt das Image des übertriebenen Ehrgeizlings an. Positiv betrachtet war der 29-Jährige schon immer der Typ Musterprofi, und nie schien letztere Auslegung so dominant wie heute. Mit der offiziellen Ernennung zum Kapitän ist Kimmich gewachsen, auf und abseits des Platzes. «Führung geht nur gemeinsam. Da hat jeder seine Rolle. Mal muss man Diplomat sein, mal Dinge auch klar und deutlich ansprechen», sagte Kimmich dem «Stern». 

Keine Kimmich-Klage über Position

Irgendwie wirkt der Münchner auch von einer Last befreit. Klaglos nahm er die Rückversetzung von der Sechserposition auf den Posten des rechten Außenverteidigers zu Beginn des Jahres hin. Er hatte verstanden, dass es nach den massiven Turnierenttäuschungen bei der WM 2018, der EM 2021 und der WM 2022 nun nur noch wenige Chancen gibt, sein Außenbild des im DFB-Team maximal Glück- und Erfolglosen zu korrigieren. 

Aussagen oder Belege gibt es nicht, aber Kimmich wirkt auch souveräner, seitdem die Weltmeister-Generation um Manuel Neuer, Thomas Müller und Toni Kroos nicht mehr bei der Nationalmannschaft dabei ist. Die Ablösung der Rio-Champions in der DFB-Hierarchie war letztlich ein Langzeitprojekt, das auch schon Nagelsmann Vor-Vor-Gänger Joachim Löw zart angestoßen, aber nie konsequent verfolgt hat. Die Generation Kimmich trat nie so ganz aus dem Schatten der Heroen von 2014 - nun muss sie es und schafft es. 

Kimmich selbst ist dabei die Symbolfigur. Seine Selbstzweifel, seine Angst, «in ein Loch zu fallen» nach dem dramatischen Scheitern auf allen Ebenen bei der WM in Katar; all das ist dokumentiert und diskutiert. Statt eines Lochs ist nun die Wolke Sieben angesagt und Kimmich referiert selbstbewusst auch über sportpolitische Themen wie einer möglichen Wiederholung der Moral-Debatte Richtung WM 2034 in Saudi-Arabien. Der Fußball soll für die Fußballer an erster Stelle stehen. Politiker sollen sich um die Politik kümmern. Das ist seine Meinung. 

Dass es auch den Menschen Kimmich gibt, zudem den vierfachen Familienvater, das wurde zuletzt immer deutlicher. Denkwürdig war eine Pressekonferenz im EM-Camp mit Kumpel David Raum mit ganz viel human touch. Eine Baumpflanzaktion, für die er zuvor mit Kollegen in einen Baumarkt fuhr, ging viral. Da sahen die Fans: Dieser Kimmich ist gar nicht immer so verkniffen. «Fußball ist wichtig, aber ich definiere mich nicht mehr allein über meinen Beruf», sagte er. Der Grund seien auch seine Kinder. Denen sei es egal, ob Papa gewinnt oder verliert, die wollen um halb sieben am Morgen Fangen spielen. 

Am besten dritte oder vierte Halbzeit

Der Spieltrieb scheint genetisch bedingt verstärkt im Hause Kimmich. «Er ist einer, der schreit, lass uns noch eine dritte oder vierte Halbzeit spielen, wenn die anderen sagen, wir haben genug», berichtete Nagelsmann von Trainingseindrücken. 

Gegen Ungarn steht das 97. Länderspiel für ihn an. Das 100. könnte das Halbfinale der Nations League im Juni sein - bestmöglich als Gastgeber in seiner Münchner Heimarena. Bei der WM 2026 wird er der einzige DFB-Akteur sein, der mehr als 100 Länderspiele absolviert hat. «Ich wünsche mir sehr, dass wir bei der WM 2026 etwas reißen, und ich glaube an unsere Mannschaft, weil sie ein gewaltiges Potenzial besitzt», sagte Kimmich.