Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich bei Bundeskanzler Olaf Scholz für die «sehr kraftvolle» deutsche Hilfe bei der Flugabwehr gegen russische Angriffe bedankt. «Die brillanten Iris-T-Systeme haben sich als sehr wirksam beim Schutz unseres Luftraums erwiesen», sagte Selenskyj gestern in seiner abendlichen Videobotschaft. Zudem habe Deutschland der Ukraine das sehr effektive Flugabwehrsystem vom US-Typ Patriot überlassen. «Die Ukraine ist sehr dankbar dafür», sagte Selenskyj nach einem Telefonat mit Scholz.
Selenskyj zufolge wurden seit Kriegsbeginn mehr als 180 russische Flugzeuge, mehr als 130 Hubschrauber, über 40 Raketen und mehr als 1000 Marschflugkörper sowie über 1600 Drohnen abgeschossen. «All das bedeutet abertausende Leben, die von Ihnen gerettet wurden, hunderte Orte mit wichtiger Infrastruktur, die Ihr geschützt habt.»
Selenskyj: Russland nutzt Schwäche aus
Zugleich machte Selenskyj einmal mehr deutlich, dass die Ukraine noch viel mehr Hilfe des Westens brauche für den eigenen Schutz. «Leider hat unser Land nicht genügend hochqualitative Flugabwehrsysteme, um unser ganzes Gebiet zu schützen und alle feindlichen Ziele zu zerstören», sagte er. Russland nutze diese Schwäche aus – wie etwa gestern, als ein Drohnenangriff Wohnhäuser und ein Gebäude des Geheimdienstes in der nordöstlichen Stadt Sumy getroffen habe.
Selenskyj bekräftigte sein Ziel, die Ukraine zur Basis für einen Raketenschutzschirm in Europa gegen russische Angriffe zu machen. «Das ist absolut notwendig und absolut möglich», sagte er. Europa könne nur in Frieden leben, wenn es Sicherheitsgarantien gebe. Ein Sicherheitsdefizit hingegen werde immer wieder aufs Neue «russische Tyrannei und Aggression provozieren».
Die Ukraine verteidigt sich seit mehr als 16 Monaten gegen Russlands Invasion. Dabei unterstützt der Westen das um seine Unabhängigkeit kämpfende Land mit Finanzhilfen in Milliardenhöhe und schweren Waffen samt Munition. Aktuell will die Ukraine mit einer Gegenoffensive die Befreiung ihrer von russischen Truppen besetzten Gebiete erreichen.
Scholz verspricht «unverbrüchliche Solidarität»
In ihrem Telefonat erörterten Scholz (SPD) und Selenskyj gestern die politische, militärische und humanitäre Lage in der Ukraine. Der Kanzler bekräftigte laut Regierungssprecher Steffen Hebestreit «die fortwährende und unverbrüchliche Solidarität» mit der Ukraine. Deutschland werde die Unterstützung, auch im militärischen Bereich, in enger Abstimmung mit internationalen Partnern fortführen.
Einer Mitteilung Selenskyjs zufolge wurden in dem Gespräch auch die ukrainischen und deutschen Positionen vor dem Nato-Gipfel im litauischen Vilnius in der kommenden Woche abgestimmt. Laut Medienberichten ist über eine persönliche Teilnahme Selenskyjs am Gipfeltreffen bisher noch nicht entschieden worden. In dem Telefonat seien zudem «zukünftige Sicherheitsgarantien» für die Ukraine besprochen worden, hieß es aus Kiew. Details wurden nicht genannt.
Bedrohter Getreidedeal: EU-Staaten erwägen Zugeständnis
Scholz und Selenskyj riefen zudem zur Verlängerung des am 17. Juli auslaufenden Getreideabkommens unter Ägide der Vereinten Nationen auf, weil es dazu beitrage, die globale Versorgung mit Lebensmitteln zu verbessern.
Um Russland zur Verlängerung des Getreideabkommens mit der Ukraine zu bewegen, wird in der EU über mögliche Zugeständnisse nachgedacht. Nach Angaben von Diplomaten könnte der russischen Landwirtschaftsbank (Russian Agricultural Bank) angeboten werden, eine Umgehung von EU-Sanktionen zu tolerieren. Die Bank könnte demnach eine Tochtergesellschaft gründen, um für die Abwicklung bestimmter Zahlungen wieder das internationale Finanzkommunikationsnetzwerk Swift nutzen zu können. Wegen Sanktionen aufgrund des russischen Angriffskriegs ist ihr das zurzeit nicht erlaubt.
Hintergrund der Überlegungen sind nach dpa-Informationen Drohungen Russlands, das Abkommen zum Export ukrainischen Getreides über das Schwarze Meer Mitte des Monats auslaufen zu lassen. Moskau verweist auf angebliche Beschränkungen für russische Agrar- und Düngemittelexporte, deren Lockerung im Gegenzug für die Ausfuhr ukrainischen Getreides erwartet würde. In diesem Zusammenhang fordert Russland auch ein Ende der Sanktionen gegen seine staatliche Landwirtschaftsbank, um Zahlungen einfacher abwickeln zu können.
Zuletzt Mitte Mai um zwei Monate verlängert
Russland hatte nach dem Überfall auf die Ukraine im Februar vergangenen Jahres die Getreideexporte des Nachbarlands monatelang blockiert. Im Sommer 2022 wurde dann unter Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei ein Abkommen zwischen den beiden Kriegsparteien geschlossen, so dass danach wieder ukrainisches Getreide verschifft wurde. Zuletzt wurde die Vereinbarung Mitte Mai für weitere zwei Monate verlängert – verbunden mit der Forderung Moskaus, die eigenen Exporte nun auch zu erleichtern.
Dass die EU die Sanktionen gegen die Landwirtschaftsbank nicht einfach aufhebt, hat nach Angaben von Diplomaten von gestern damit zu tun, dass es dafür vermutlich nicht den erforderlichen Konsens unter den Mitgliedstaaten geben würde. Einer neuen Tochtergesellschaft die Nutzung von Swift zu erlauben, könnten Gegner eines solchen Schritts allerdings wohl nicht verhindern.
Befürworter der Maßnahme verweisen darauf, dass die Getreideexporte nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Empfängerstaaten in Afrika und Asien sehr wichtig sind. Zudem muss aus ihrer Sicht verhindert werden, dass Russland die Schuld am einem möglichen Scheitern des Abkommens dem Westen in die Schuhe schieben kann.
Was heute wichtig wird
Die Ukraine setzt ihre Gegenoffensive zur Befreiung der von Russland besetzten Gebiete fort. Das russische Militär wiederum versucht, einen Durchbruch der ukrainischen Truppen an der befestigten Frontlinie zu verhindern. Die Ukrainer hatten zuletzt mehrere Gebiete zurückerobert.