Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage
Der frühere Nato-Chef Anders Fogh Rasmussen schlägt einen Beitritt der Ukraine zum transatlantischen Militärbündnis ohne die von Russland besetzten Gebiete vor. Indem man die besetzten Gebiete im Süden und Osten des Landes außen vor ließe, würde das Risiko eines offenen Konflikts zwischen Russland und der Nato gesenkt, sagte der Däne dem britischen «Guardian». Derweil zeichnete die ukrainische Staatsführung ein Jahr nach der Vertreibung der russischen Armee aus Cherson Dutzende Soldaten und Zivilisten aus, die an der Befreiung der Großstadt im Süden des Landes mitgewirkt haben.
Der «Guardian» veröffentlichte am Samstag Auszüge des Interviews mit Rasmussen, der von 2009 bis 2014 Nato-Generalsekretär war. Demnach sagte der 70-Jährige, ein Teilbeitritt der Ukraine und die damit verbundene Beistandsverpflichtung der Bündnispartner «würde Russland von Angriffen auf ukrainisches Gebiet innerhalb der Nato abschrecken» und den ukrainischen Streitkräften so ermöglichen, sich auf Frontkämpfe abseits des Kernlands zu konzentrieren. Moskau müsse verstehen, dass die Ukraine nicht von einem Bündnisbeitritt abzuhalten sei.
Die Ukraine verteidigt sich seit Februar 2022 gegen den russischen Angriffskrieg und erhält dafür in großem Umfang westliche Waffenhilfe. Ziel der ukrainischen Streitkräfte ist es, die vier von Russland annektierten, aber nur teils kontrollierten Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson von der Besatzung zu befreien sowie die bereits 2014 annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim zurückzuerobern.
Rasmussen: «Brauchen neue europäische Sicherheitsarchitektur»
«Die Zeit ist gekommen, den nächsten Schritt zu gehen und die Ukraine zum Nato-Beitritt einzuladen», sagte Rasmussen. «Wir brauchen eine neue europäische Sicherheitsarchitektur, in der die Ukraine im Herzen der Nato ist.»
Verschiedene Experten und Bündnispolitiker warnen davor, die Ukraine in der jetzigen Phase des Konflikts aufzunehmen, weil die Militärallianz sonst direkt in den Krieg hineingezogen und die Beistandsverpflichtung nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages ausgelöst werden könnte. Darin ist geregelt, dass sich die Bündnispartner verpflichten, bei einem bewaffneten Angriff gegen einen oder mehrere von ihnen Beistand zu leisten. Die Staatsführung in Kiew wiederum lehnt jegliche Pläne ab, die als möglicher Schritt zu einem dauerhaften Verzicht auf ukrainisches Territorium zugunsten Russlands interpretiert werden könnten.
Selenskyj zeichnet Soldaten und Zivilisten aus
Für ihren Kampf zur Befreiung Chersons zeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mehr als 100 Soldaten aus - mindestens 15 von ihnen posthum. Außerdem verteilte er staatliche Orden an Ärzte, freiwillige Helfer sowie Mitarbeiter örtlicher Behörden und Unternehmen, die zur Befreiung der Großstadt beigetragen hatten. Die ukrainische Armee werde Angriffe der russischen Truppen auch künftig nicht unbeantwortet lassen, versprach Selenskyj in seiner Abendansprache am Samstag.
Die ukrainische Armee hatte die Hauptstadt der gleichnamigen Region Cherson rund acht Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs wieder unter eigene Kontrolle gebracht. Ein Teil der Region ist jedoch weiterhin von russischen Truppen besetzt und schwer umkämpft.
Kiew gratuliert Warschau zum Unabhängigkeitstag
Selenskyj gratulierte am Samstag auch dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda zum polnischen Unabhängigkeitstag und dankte für Warschaus Unterstützung der Ukraine. «Die Ukraine und Polen müssen zusammenstehen, damit unsere Völker für immer frei bleiben», sagte Selenskyj. Das EU- und Nato-Land Polen gehört zu den wichtigsten Unterstützern der Ukraine. Zuletzt wurde das Verhältnis beider Länder aber durch den Streit über den Import und Transit von ukrainischem Getreide lädiert.
Was am Sonntag wichtig wird
Im Osten und Süden der Ukraine gehen die Gefechte weiter. Laut Angaben der ukrainischen Militärführung liegt ein Schwerpunkt der Kämpfe bei Marjinka im Osten des Landes.