Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage
Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms erwarten die ukrainischen Behörden im Gebiet Cherson weiter steigende Wasserstände. Bis Morgen Vormittag werde das Wasser noch um einen Meter ansteigen, sagte der Sprecher der Chersoner Militärverwaltung, Olexander Tolokonnikow, heute im ukrainischen Fernsehen.
Zugleich sagte er, dass der Staudamm weiter breche, weshalb das Wasser noch steigen könne. Das Wasser fließt aus dem Stausee über die schwer beschädigte Staumauer ab.
In der Großstadt Cherson stieg das Wasser laut Behörden um mehr als zwei Meter, die ersten Etagen von Gebäuden sind überschwemmt. Die Evakuierung der Bewohner laufe, hieß es.
Teils waren Helfer in der Region in Booten unterwegs auf der Suche nach Menschen, die womöglich auf Dächern ihrer überschwemmten Häuser ausharren, um gerettet zu werden. In sozialen Netzwerken gab es Videos von Menschen, die verzweifelt auch ihre durchnässten Hunde, Katzen und anderen Haustiere in Sicherheit bringen wollten.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf den russischen Besatzern vor, sie brächten mit dem Terroranschlag gegen das Wasserkraftwerk und den Staudamm alles Leben in Gefahr. Sie hätten am Dienstag absichtlich eines der größten Wasserreservoirs der Ukraine zerstört. Zehntausende Menschen seien in der Gefahrenzone. Hunderttausende in einem weiteren Einzugsgebiet seien nun ohne normalen Zugang zu Trinkwasser.
«Unsere Dienste, alle, die helfen können, sind bereits im Einsatz», schrieb Selenskyj am Mittwoch im Kurznachrichtendienst Twitter. «Aber wir können nur in dem Gebiet helfen, das von der Ukraine kontrolliert wird.» Der Großteil der Region steht unter russischer Besatzung, wo die Behörden nun den Ausnahmezustand verhängten. Selenskyj warf den Besatzern vor, sich nicht um die Not der Menschen zu kümmern.
Ukraine warnt vor Krankheiten und Seuchen
Die Ukraine warnt vor einer Ausbreitung von Krankheiten und Seuchen in der überfluteten Region Cherson. Durch das Hochwasser können in der südlichen Region Chemikalien und Krankheitserreger in Brunnen und Gewässer gelangen, wie das ukrainische Gesundheitsministerium auf Facebook mitteilte. Experten des Ministeriums seien bereits vor Ort im Einsatz, um Wasserproben zu analysieren, hieß es weiter. Außerdem sollten regionale Vorräte an Antibiotika aufgestockt werden, um mehr Menschen bei Darminfekten behandeln zu können.
Die ukrainische Behörde teilte außerdem mit, in den kommenden drei bis fünf Tagen werde der Wasserstand wieder sinken, was voraussichtlich zum Massen-Fischsterben führen werde. Der Verzehr von Fischen sei deshalb nun kategorisch verboten, um das Risiko von Botulismus – einer lebensbedrohlichen Nervenvergiftung – zu minimieren.
Greenpeace warnt vor enormen Umweltschäden
Greenpeace warnt vor enormen Umweltschäden durch die Zerstörung des Staudamms. «Aufgrund des Ausmaßes der Katastrophe wird es in den kommenden Sommermonaten und darüber hinaus unweigerlich zu Auswirkungen auf die Wasserversorgung von Millionen von Menschen und die Landwirtschaft kommen», erklärte die Umweltschutzorganisation am Mittwoch in Hamburg. «Zu den größten Umweltbedrohungen gehören giftige und andere Schadstoffe, schwere Schäden an empfindlichen Ökosystemen, Nationalparks und am Biosphärenreservat Schwarzes Meer.»
Der Greenpeace-Atomexperte Shaun Burnie zeigte sich auch alarmiert wegen möglicher Folgen für das von russischen Truppen besetzte Atomkraftwerk Saporischschja. Sinke der Wasserspiegel des Stausees zu sehr ab, könne das AKW-eigene Kühlbecken nicht mehr direkt nachgefüllt werden, sondern nur noch mit Pumpen aus anderen Quellen. «Damit wäre aber eine Situation erreicht, die außerhalb der Sicherheitsparameter für das Kraftwerk liegt», sagte Burnie. Zudem bestehe das Risiko, dass mit dem weiteren Sinken des Pegels auch das Wasser im Kühlbecken verloren gehe. Das russische Militär müsse die Besetzung des Atomkraftwerks sofort beenden und es dem ukrainischen Personal ermöglichen, die notwendigen Maßnahmen ohne jegliche Einmischung zu ergreifen.
Selenskyj: Russland wird nur höheren Preis zahlen
Die Ukraine wird sich laut Selenskyj auch durch die Explosion des Staudamms nicht an der Rückeroberung besetzter Gebiete hindern lassen. «Die von russischen Terroristen verursachte Katastrophe im Wasserkraftwerk Kachowska wird die Ukraine und die Ukrainer nicht aufhalten», sagte Selenskyj gestern in seiner abendlichen Videobotschaft.
Nach Darstellung Selenskyjs diente die Sprengung des Staudamms dazu, die ukrainische Gegenoffensive auszubremsen. «Wir werden trotzdem unser gesamtes Land befreien», kündigte er an. Solche Attacken könnten Russlands Niederlage nicht verhindern, sondern führten nur dazu, dass Moskau am Ende einen höheren Schadenersatz zahlen müsse. Der ukrainische Generalstaatsanwalt habe sich bereits an den Internationalen Strafgerichtshof mit der Bitte um eine Untersuchung der Explosion gewandt.
Russischer Besatzungschef: Taktischer Vorteil durch Hochwasser
Der russische Besatzungschef im südukrainischen Gebiet Cherson, Wladimir Saldo, sieht nach der Zerstörung des Staudamms einen militärischen Vorteil für die eigene Armee. «Aus militärischer Sicht hat sich die operativ-taktische Situation zugunsten der Streitkräfte der Russischen Föderation entwickelt», sagte Saldo heute im russischen Staatsfernsehen. «Sie können nichts machen», so seine Sicht auf die ukrainischen Truppen, die eine Gegenoffensive zur Befreiung der besetzten Gebiete planen.
Kiew und Moskau schieben sich vor UN-Sicherheitsrat Schuld zu
Vor dem UN-Sicherheitsrat in New York wiesen sich Kiew und Moskau gegenseitig die Schuld für die Zerstörung des Kachowka-Staudamms zu. Der ukrainische UN-Botschafter Serhij Kislizia sprach bei einer kurzfristig einberufenen Dringlichkeitssitzung von einem «Akt des ökologischen und technologischen Terrorismus».
Die Sprengung sei «ein weiteres Beispiel für den Völkermord Russlands an den Ukrainern.» Der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja sagte dagegen, dass der Vorfall auf «vorsätzliche Sabotage Kiews» zurückzuführen und wie ein Kriegsverbrechen einzuordnen sei. Der Staudamm sei für ein «unvorstellbares Verbrechen» benutzt worden.
Moskau wirft Kiew Terroranschlag gegen Zivilisten vor
Kurz vor der Sitzung des UN-Sicherheitsrat hatte bereits das russische Außenministerium die Ukraine beschuldigt, den Kachowka-Staudamm zerstört zu haben und seinerseits von Terrorismus gesprochen. «Der Vorfall ist ein Terroranschlag, der sich gegen zutiefst zivile Infrastruktur richtet», heißt es in einer Mitteilung der Behörde. Russland habe die Sitzung des UN-Sicherheitsrats initiiert, um die von Kiew ausgelöste große «humanitäre und ökologische Katastrophe» zu verurteilen.
Laut dem Außenministerium in Moskau handelt es sich um eine geplante und gezielte Aktion des ukrainischen Militärs im Rahmen der eigenen Gegenoffensive. Kiew habe den Staudamm nicht nur beschossen, sondern den Wasserstand durch die vorherige Öffnung einer Schleuse am Oberlauf des Dnipro auf ein kritisches Niveau angehoben. Durch den Dammbruch würden die Landwirtschaft und das Ökosystem der Region Cherson geschädigt und die Wasserversorgung der Krim beeinträchtigt.
Die 2014 von Russland annektierte Krim erhält Wasser aus dem Dnipro über einen Kanal. Wurde dieser nach 2014 zwischenzeitlich trockengelegt, so hat Russland nach der Besetzung des Kachowka-Staudamms auch den Kanal Richtung Krim für die Bewässerung der Halbinsel wieder geöffnet.
Selenskyj wiederum präsentierte in seiner Videobotschaft eine Begründung dafür, warum Russland die von ihr kontrollierte Halbinsel Krim mit solch einer Sprengung von der Wasserversorgung abschneide. Moskau hat sich seinen Angaben nach bereits darauf eingestellt, die seit 2014 annektierte Krim zu verlieren.
WFP: Staudamm-Zerstörung vernichtet wichtiges Getreide
Die Welternährungsorganisation (WFP) warnt vor verheerenden Konsequenzen für hungernde Menschen weltweit. «Die massiven Überflutungen vernichten neu angepflanztes Getreide und damit auch die Hoffnung für 345 Millionen Hungerleidende auf der ganzen Welt, für die das Getreide aus der Ukraine lebensrettend ist», sagte der Leiter des Berliner WFP-Büros Martin Frick der Deutschen Presse-Agentur.
Ministerium: Felder könnten Wüsten werden
Nach der Explosion Staudamms rechnet das ukrainische Agrarministerium ersten Schätzungen zufolge mit der Überschwemmung von etwa 10.000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche am nördlichen Ufer des Dnipro in der Region Cherson. Am südlichen Ufer, im russisch besetzten Gebiet werde ein Vielfaches dieser Fläche überflutet, teilte das Ministerium auf seiner Webseite mit. Detaillierte Informationen sollen demnach in den kommenden Tagen bekannt gegeben werden, wenn sich das Ministerium ein genaues Bild von der Lage gemacht habe.
Zudem werde «die von Menschen verursachte Katastrophe die Wasserversorgung von 31 Feldbewässerungssystemen in den Regionen Dnipropetrowsk, Cherson und Saporischschja zum Erliegen bringen», so das Ministerium. «Die Zerstörung des Wasserkraftwerks Kachowka wird dazu führen, dass sich die Felder im Süden der Ukraine bereits im nächsten Jahr in Wüsten verwandeln könnten», hieß es weiter.
London: Weitere Überschwemmungen möglich
Britische Geheimdienste rechnen mit weiteren Folgen. «Die Struktur des Damms wird sich in den nächsten Tagen voraussichtlich weiter verschlechtern, was zu weiteren Überschwemmungen führen wird», teilte das britische Verteidigungsministerium mit. Auf Fotos und Videos hat es den Anschein, dass ein Teil der Staumauer noch steht. Weitere Angaben machte die Behörde nicht, auch nicht dazu, wer für die Zerstörung verantwortlich sein könnte.
Der britische Premierminister Rishi Sunak sagte auf einer Reise in die USA, britische Geheimdienste würden die Beweise zur Zerstörung noch prüfen. Derzeit sei es zu früh, um ein endgültiges Urteil über die Ursachen des Dammbruchs zu fällen. Sollte Russland verantwortlich sein, würde dies «den größten Angriff auf die zivile Infrastruktur in der Ukraine seit Kriegsbeginn» darstellen und ein «neues Tief» der russischen Aggression, sagte Sunak.
Nothilfe läuft an
Organisationen des Bündnisses «Aktion Deutschland Hilft» stehen zur Unterstützung der betroffenen Menschen bereit. So stellen die Johanniter Fahrzeuge für die Evakuierung von Bewohnern zur Verfügung und bereiten die Unterbringung von Betroffenen sowie ihre Versorgung mit Trinkwasser und Nahrungsmitteln vor. Die Organisation «Help – Hilfe zur Selbsthilfe» verteilt nach Bedarf Hilfsgüter und zahlt evakuierten Menschen Bargeld aus, damit sie sich selbst mit dem Nötigsten versorgen können. Benzingutscheine sollten die Evakuierung erleichtern, teilte die «Aktion Deutschland Hilft» in Bonn mit.