Nach Angaben des russischen Präsidenten Wladimir Putin steht ein Einmarsch Russlands in die Nato-Staaten Polen und Lettland im Grunde «komplett außer Frage» - mit einer Ausnahme. Auf die Frage, ob er sich ein Szenario vorstellen könne, in dem er russische Truppen nach Polen schicken würde, entgegnete Putin in einem zur besten Sendezeit in den USA ausgestrahlten Interview: «Nur in einem Fall: wenn Polen Russland angreift.» Derweil hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Armee des von Russland angegriffenen Landes einem neuen Oberbefehlshaber anvertraut - dem 58-jährigen Generaloberst Olexander Syrskyj.
Putin äußerte sich im Gespräch mit dem rechten US-Talkmaster Tucker Carlson, der das Interview mit dem Kremlchef bereits am Dienstag in Moskau geführt hatte. Die 127 Minuten lange Aufzeichnung erschien in der deutschen Nacht auf Carlsons Webseite und der Plattform X, vormals Twitter. Russland habe kein Interesse an Polen, Lettland oder anderen Ländern, sagte Putin darin. «Warum sollten wir das tun? Wir haben einfach kein Interesse.» Es widerspreche dem gesunden Menschenverstand, sich auf «eine Art globalen Krieg» einzulassen, so Putin weiter. Den Nato-Staaten warf er vor, die eigene Bevölkerung mit dem Vorgaukeln einer «imaginären russischen Bedrohung» einzuschüchtern.
Im Fall des in russischer Untersuchungshaft sitzenden US-Journalisten Evan Gershkovich gab sich Putin gesprächsbereit. «Ich schließe nicht aus, dass Herr Gershkovich in sein Heimatland zurückkehren wird», sagte er in dem Interview. «Es macht keinen Sinn, ihn in Russland im Gefängnis zu halten.» Die USA sollten darüber nachdenken, wie sie zu einer Lösung beitragen könnten, betonte der Kremlchef - und deutete die Möglichkeit eines Gefangenenaustauschs an. «Wir sind gesprächsbereit.» Weitere Äußerungen Putins ließen sich so interpretieren, dass eine Freipressung des im Dezember 2021 verurteilten Tiergarten-Mörders Vadim K. gemeint sein könnte, der in Deutschland zu lebenslanger Haft verurteilt worden war.
Der neue Oberbefehlshaber
Der ukrainische Präsident Selenskyj verkündete in einem Erlass die Beförderung des bisherigen Kommandeurs der ukrainischen Landstreitkräfte, Generaloberst Olexander Syrskyj, zum neuen Oberbefehlshaber. In einem zweiten Erlass entband er den bisherigen obersten Militär Walerij Saluschnyj (50) von seinem Posten. Der Wechsel beendet einen Konflikt zwischen dem Staatschef und dem erfolgreichen General Saluschnyj, der sich seit Längerem angebahnt hatte. Zugleich bedeutet er aber die stärkste Erschütterung im Machtgefüge der Ukraine seit Beginn der russischen Invasion vor knapp zwei Jahren.
Syrskyi hat - anders als sein Vorgänger auf dem Posten - noch eine sowjetische Schulung durchlaufen und seine Offiziersausbildung in Moskau erhalten. Er ist ethnischer Russe, wurde im russischen Gebiet Wladimir geboren und lebt seit 1980 in der heutigen Ukraine. Die Liste seiner Verdienste ist lang. Er war Kommandeur, als sich die Ukraine ab 2014 gegen die als Separatistenbewegung getarnten russischen Besatzer der Ostukraine verteidigte. Seit 2019 kommandierte der verheiratete Vater eines Sohnes das ukrainische Heer.
Nach Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 hatte Syrskyj großen Anteil an der Verteidigung von Kiew und am Durchbrechen russischer Stellungen im Herbst 2022 im Gebiet Charkiw. Er kommandierte auch die hinhaltende Verteidigung der Stadt Bachmut bis Frühjahr 2023. Sie fügte den Russen schwere Verluste zu, war aber auch mit hohen ukrainischen Opfern erkauft. Zwischen Syrskyj und Präsident Selenskyj gab es Militärexperten zufolge schon länger einen Draht - auch unter Umgehung Saluschnyjs. Die USA kündigten an, man werde mit dem neuen Oberbefehlshaber gut zusammenarbeiten.
Politisches Beben in Kiew
Die Entlassung Saluschnyjs nach fast zwei Jahren Krieg war in Kiew ein politisches Beben. Der bullige General galt als beliebt in der Armee wie in der Bevölkerung. Er schätzte aber wohl die militärische Lage negativer ein als die politische Führung und machte dies in Artikeln auch öffentlich. Selenskyj nahm sich zwei Stunden Zeit, um hinter verschlossenen Türen mit führenden ukrainischen Journalisten zu sprechen und seine Entscheidung zu erläutern. Das berichteten Teilnehmer hinterher.
Öffentlich dankten der Präsident und Verteidigungsminister Rustem Umjerow dem scheidenden Spitzenmilitär. Es seien im dritten Kriegsjahr aber «neue Ansätze» nötig, sagten sie übereinstimmend. Details nannten sie nicht. Die Nachricht von der Entlassung, auch wenn sie erwartet worden war, kam bei vielen ukrainischen Militärbeobachtern nicht gut an. «Saluschnyj rauszuwerfen und durch Syrskyj zu ersetzen - das ist kein neuer Ansatz. Sorry», kritisierte der bekannte ukrainische Journalist IIlja Ponomarenko.
Moskau und Kiew tauschen Kriegsgefangene aus
Die Ukraine und Russland tauschten zum zweiten Mal binnen weniger Tage Kriegsgefangene aus. 100 ukrainische Nationalgardisten, Grenzschützer und Soldaten seien in die Heimat zurückgekehrt, teilte Selenskyj am Donnerstag mit. «Wir arbeiten für jeden und jede und hören nicht auf, bis wir nicht alle zurückgeholt haben», schrieb er auf Telegram. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums in Moskau kehrten auch 100 russische Soldaten aus der Gefangenschaft zurück. Die Vereinigten Arabischen Emirate hätten bei der Vermittlung des Austausches geholfen.
Zuletzt hatten die beiden Staaten am 31. Januar etwa 400 Gefangene ausgetauscht. Davor hatte es mehrere Monate Pause gegeben. Dann war ein Austausch für den 24. Januar geplant. Er scheiterte aber möglicherweise daran, dass ein russisches Militärtransportflugzeug über dem russischen Grenzgebiet Belgorod abstürzte oder abgeschossen wurde. Der genaue Hergang ist ungeklärt. Nach Moskauer Angaben saßen 65 ukrainische Kriegsgefangene auf dem Weg zum Austausch in der Maschine und wurden getötet. Die Ukraine zieht in Zweifel, dass die Iljuschin Il-76 tatsächlich Gefangene transportierte.
Das wird heute wichtig
Bei einem Treffen von Bundeskanzler Olaf Scholz mit US-Präsident Joe Biden im Weißen Haus in Washington soll es auch um die Militärhilfen für die Ukraine gehen. Die USA und Deutschland sind mengenmäßig die wichtigsten Unterstützer des angegriffenen Landes. In den USA sind die Hilfen aber einstweilen durch den Streit zwischen Republikanern und Demokraten blockiert, auch wenn ein Gesetzentwurf eine wichtige Hürde im Senat nahm. Der zunehmende Wahlkampf erschwert eine mögliche Einigung enorm.