Gesellschaft

Mehr als halbe Million Katholiken aus Kirche ausgetreten

Dass die Austrittszahlen für das Jahr 2022 ein Desaster für die katholische Kirche in Deutschland werden würden, war absehbar. Doch es kommt sogar noch schlimmer als befürchtet.

Mehr als halbe Million Katholiken aus Kirche ausgetreten

Es ist ein dramatischer Negativrekord: Mehr als eine halbe Million Menschen sind 2022 in Deutschland aus der katholischen Kirche ausgetreten. Die Zahl der Austritte lag in dem Jahr bei 522.821, wie die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) am Mittwoch in Bonn mitteilte. Das sind so viele wie noch nie und deutlich mehr als im bisherigen Rekordjahr 2021. Damals hatten 359.338 Katholiken ihrer Kirche den Rücken gekehrt.

«Die katholische Kirche stirbt einen quälenden Tod vor den Augen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit», sagt der Kirchenrechtler Thomas Schüller der Deutschen Presse-Agentur. DBK-Chef Bätzing spricht von «alarmierenden» Zahlen und fordert eine «neue Kultur» innerhalb der Kirche. Die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp, sieht eine «eklatante Krise».

In Deutschland machten die restlichen 20.937.590 Katholiken nach den Zahlen von 2022 noch 24,8 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.

Dass sich die für die katholische Kirche ohnehin dramatische Entwicklung noch einmal beschleunigen würde, hatte sich zu Jahresbeginn 2022 abgezeichnet. Vor allem nach der Vorstellung eines Gutachtens zum Missbrauch im Erzbistum München und Freising im Januar und der Diskussion um eine Mitschuld des inzwischen gestorbenen Papstes Benedikt XVI. waren die Austrittszahlen förmlich explodiert.

Vorstellung des Gutachtens treibt Austrittswelle in die Höhe

In der ersten Januarhälfte, also vor dem Gutachten, waren pro Arbeitstag in München etwa 80 Menschen aus der Kirche ausgetreten; nach dem 20. Januar, dem Tag der Vorstellung des Gutachtens, waren es dann zeitweise bis zu 160 Kirchenaustritte pro Arbeitstag - also etwa doppelt so viele. Dabei setzte die Stadt München, wo man - wie standardmäßig in Deutschland - nur mit persönlichem Erscheinen aus der Kirche austreten kann - sogar zusätzliches Personal ein.

Schlagzeilen machten im vergangenen Jahr auch Lügen-Vorwürfe gegen den umstrittenen Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki, bei dem es erst an diesem Dienstag eine Razzia gegeben hatte, und Rechtsstreits um Schmerzensgeld für Missbrauchsopfer in Köln und im oberbayerischen Traunstein. Allein in den beiden großen Erzbistümern Köln und München traten jeweils rund 50.000 Katholiken aus.

«Viele Ursachen spielen hierbei hinein, aber auch aktuelle Brandbeschleuniger wie die kardinale Tragödie in Köln, in deren Strudel alle Bistümer und selbst die evangelischen Landeskirchen mit hineingezogen werden», sagt Schüller.

Wellen ebben nicht mehr so schnell ab

Der Passauer Bischof Stefan Oster, der gemeinsam mit Woelki und seinen bayerischen Bischofskollegen aus Eichstätt und Regensburg in der DBK gerade erst die Finanzierung eines Reformgremiums blockiert hat, erläutert: «Gerade nach Veröffentlichung von Missbrauchsgutachten oder dem Bekanntwerden von Finanzskandalen schnellen die Austrittszahlen in die Höhe.» Das große Problem aus seiner Sicht: «Die Wellen ebben mittlerweile nicht mehr so deutlich ab.»

Weniger Mitglieder bedeuten zunächst einmal weniger Kirchensteuereinnahmen und damit weniger Geld für die Bistümer - aber in zweiter Linie stellt sich dann auch die Frage, welche Bedeutung und welchen Einfluss die Institution noch hat. Alle Feiertage bis auf den Tag der Deutschen Einheit beziehen sich in Bayern auf das Christentum und vor allem auf katholische Traditionen wie Fronleichnam.

Auch evangelische Kirche mit Rückgängen

«Diese Austrittszahlen betreffen nicht nur die Kirche selbst», betont Schüller. «Schon sehr bald wird denen, die vielleicht mit innerer Freude die Erosion der katholischen Kirche hämisch betrachten, bewusst werden, dass viel lieb gewonnene kirchliche Aktivitäten verschwinden werden: Schulen, Kindertagesstätten, Akademien, soziale Einrichtungen.»

Die Austrittswelle rollt nicht nur in der katholischen Kirche immer schneller. Auch die evangelische Kirche hatte 2022 mehr Mitglieder verloren als im Jahr davor. Die Zahl der Kirchenmitglieder sank nach EKD-Angaben um 2,9 Prozent auf 19,15 Millionen Menschen. 2021 betrug der Rückgang demnach noch 2,6 Prozent. Vor allem die Kirchenaustritte seien deutlich gestiegen, hieß es. Sie lagen demnach im vergangenen Jahr bei 38.000.

«Der Tod der Kirche trifft sie nicht nur selbst, sondern Staat und Gesellschaft verlieren einen Eckpfeiler des Sozial- und Bildungssystems, den sie nicht ersetzen können», sagt Schüller. «Das ist die wohl eigentlich dramatische Auswirkung dieser Austrittszahlen. Der Austrittstsunami ist daher nicht nur ein innerkirchliches Problem, er wird Deutschland auf lange Sicht substanziell verändern.»