Machtkampf in Russland

Offener Machtkampf: Putin wirft Wagner-Söldnern Verrat vor

Seit genau 16 Monaten führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Jetzt kommt es zum offenen Konflikt zwischen Söldnerchef Prigoschin und dem Kreml. Im Westen wird die Entwicklung genau verfolgt.

Offener Machtkampf: Putin wirft Wagner-Söldnern Verrat vor

In Russland hat sich der Konflikt zwischen der Führung in Moskau und der privaten Söldnertruppe Wagner zu einem beispiellosen Machtkampf entwickelt. Präsident Wladimir Putin brandmarkte den Chef und Gründer der berüchtigten Privatarmee, Jewgeni Prigoschin, am Samstag in einer Fernsehansprache als Verräter. «Das ist ein Stoß in den Rücken unseres Landes und unseres Volkes», sagte Putin. Zuvor hatten die Söldner seines Ex-Vertrauten russische Militäreinrichtungen im Süden des Landes, nahe der Grenze zur Ukraine, unter ihre Kontrolle gebracht. Dort kam es auch zu Kämpfen.

Die mehreren Tausend Wagner-Kämpfer waren für Moskau bislang eine der wichtigen Gruppen im Angriffskrieg gegen die Ukraine, der am Samstag genau 16 Monaten dauerte. Prigoschin wirft dem russischen Verteidigungsministerium seit langem falsche Taktik und schlechte Führung vor. Seine Kritik richtete sich bislang vor allem gegen Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow – Putin sparte er aus. Nun hielt er jedoch auch dem Kremlchef vor, sich schwer zu irren. Unklar war zunächst, welche Auswirkungen der innerrussische Konflikt auf den Kriegsverlauf hat.

Prigoschin galt bisher als Vertrauter Putins, den er zu dessen Zeiten als Beamter in St. Petersburg verköstigt hatte. Daher wird er auch «Putins Koch» genannt. Bislang konnte er sich Kritik erlauben, für die andere längst bestraft worden wären. Nun stellte sich der Kremlchef jedoch öffentlich gegen Prigoschin. Wer Waffen erhebe und bewaffneten Aufstand organisiere, werde bestraft, sagte Putin in seiner TV-Anspreche. Er forderte die Wagner-Kämpfer auf, ihre Teilnahme an kriminellen Handlungen umgehend zu beenden. Russlands Geheimdienst FSB ermittelt gegen Prigoschin wegen Putschversuchs.

Prigoschin: «Der Präsident irrt sich schwer»

Der Söldnerchef warf Putin daraufhin vor, die Lage völlig falsch einzuschätzen. «Der Präsident irrt sich schwer», sagte er in einer Sprachnachricht auf seinem Telegram-Kanal. Die eigene Rolle beschrieb er mit den Worten: «Wir sind Patrioten unserer Heimat.» Prigoschin kündigte an, «Korruption, Lügen und Bürokratie» in Russland zu beenden. Damit forderte der Söldnerchef, der nach eigenen Angaben über etwa 25.000 Kämpfer verfügt, erstmals auch Putin offen heraus. Die russischen Streitkräfte haben etwa 1,5 Millionen Angehörige.

In der Ukraine wurde die jüngste Entwicklung im Nachbarland genau verfolgt. Präsident Wolodymyr Selenskyj betonte: «Jeder, der den Weg des Bösen wählt, zerstört sich selbst.» Der bewaffnete Aufstand sei ein klares Zeichen für Putins Schwäche, schrieb Selenskyj beim Kurznachrichtendienst Twitter. «Lange Zeit bediente sich Russland der Propaganda, um seine Schwäche und die Dummheit seiner Regierung zu verschleiern. Und jetzt ist das Chaos so groß, dass keine Lüge es verbergen kann.»

Prigoschin zufolge besetzten seine Kämpfer militärische Einrichtungen in der südrussischen Stadt Rostow am Don, wo sich das Hauptquartier des russischen Militärbezirks Süd befindet – eine Kommandozentrale für den Krieg gegen die Ukraine. Putin bestätigte in seiner Ansprache: «Faktisch ist die Arbeit von Organen der zivilen und militärischen Führung blockiert.» Über die Lage in dem an die Ukraine grenzenden Gebiet Rostow sagte er: «Sie bleibt schwierig.»

Auf dem Weg nach Moskau?

Nach Einschätzung der britischen Geheimdienste sind nun Wagner-Einheiten Richtung Norden unterwegs – vermutlich mit Ziel Moskau. Der Gouverneur des südwestrussischen Gebiets Woronesch, Alexander Gussew, bestätigte Gefechte: «Im Rahmen einer Anti-Terror-Operation führen die Streitkräfte der Russischen Föderation auf dem Gebiet der Region Woronesch notwendige operativ-kämpferische Maßnahmen durch», schrieb er bei Telegram. In Moskau und Umgebung und auch in Woronesch wurde der Anti-Terror-Notstand verhängt. In der Nacht waren in der Hauptstadt Militärfahrzeuge im Stadtzentrum unterwegs.

Der Machthaber der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, stellte sich an die Seite Putins und kündigte die Entsendung seiner Truppen an, um den Aufstand niederzuschlagen. Tschetschenische Kämpfer sind – wie bis vor kurzem die Wagner-Einheiten – an der Seite der regulären russischen Armee gegen die Ukraine im Einsatz. Der für seinen brutalen Führungsstil bekannte Kadyrow und Prigoschin gelten seit längerem als Kontrahenten.

Das russische Verteidigungsministerium forderte die Söldner zur Aufgabe auf. Sie seien von Prigoschin in ein «kriminelles Abenteuer» hineingezogen worden. «Bitte seien Sie vernünftig und nehmen Sie schnellstmöglich Kontakt mit Vertretern des russischen Verteidigungsministeriums oder den Ordnungsorganen auf. Wir garantieren die Sicherheit aller.»

Die nächsten Studen sind entscheidend

Das britische Verteidigungsministerium betonte: «In den kommenden Stunden wird die Loyalität der russischen Sicherheitskräfte und insbesondere der russischen Nationalgarde entscheidend für den Verlauf der Krise sein.» Es gebe bisher nur «sehr begrenzte Beweise» für Kämpfe zwischen Wagner und Sicherheitskräften. Dies deute darauf hin, dass einige russische Truppen wahrscheinlich «passiv» geblieben seien und Wagner nachgegeben hätten. «Die nächsten 48 Stunden werden über den neuen Status von Russland entscheiden», twitterte auch der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak.

Gegen Prigoschin ermitteln die Behörden in Moskau nun wegen Aufrufs zu einem bewaffneten Aufstand. Der Inlandsgeheimdienst FSB rief die Wagner-Söldner auf, ihren Chef festzusetzen. Die Entwicklung in Russland wurde im Westen aufmerksam verfolgt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lässt sich nach Angaben eines Regierungssprechers «laufend unterrichten». Im Auswärtigen Amt kam ein Krisenstab zusammen. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) beriet nach Angaben ihres Hauses mit ihren Kollegen aus den anderen G7-Staaten über die Lage. Der britische Premierminister Rishi Sunak rief alle Seiten in Russland zum Schutz der Zivilbevölkerung auf.

In der Ukraine tobten die Kämpfe ungeachtet der Eskalation in Russland weiter. Bei einem russischen Raketenangriff auf die Hauptstadt Kiew wurden in der Nacht zum Samstag drei Menschen getötet und elf weitere verletzt, wie die dortige Staatsanwaltschaft mitteilte. Der Angriff mit zahlreichen Opfern war eine der folgenschwersten russischen Attacken auf Kiew in jüngerer Zeit. Kiew wird seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 immer wieder mit Raketen und Drohnen angegriffen.