Schlägereien im Ruhrgebiet: Pulverfass oder falsche Debatte?
Nach den Massenschlägereien im Ruhrgebiet zwischen Syrern und Libanesen warnen Wissenschaftler davor, Clan-Strukturen als allzu einfache Erklärungsmuster dafür zu nehmen. «Dieser Begriff stigmatisiert und erklärt nicht den Konflikt. Das ist ein Konstrukt, das es im Gesetzestext so nicht gibt», sagte der Soziologe Salah El-Kahil von der Universität Duisburg-Essen. Die weitaus meisten Mitglieder der Familien seien nicht Mitglied krimineller Strukturen.
In Castrop-Rauxel waren nach einem privaten syrisch-libanesischen Familienstreit, der durch Aufrufe und offenbar auch durch Falschinformationen in sozialen Medien ausuferte, vor mehr als einer Woche zwei größere Gruppen beider Nationen unter anderem mit Dachlatten, Baseballschlägern und Messern aufeinander losgegangen. Bekannt sind sieben Verletzte, die in sechs verschiedenen Krankenhäusern behandelt wurden.
«Nicht nur organisierte Kriminalität im Hinterzimmer»
Einen Tag später gab es in Essen einen Marsch zahlreicher Libanesen durch die Innenstadt – und eine weitere Schlägerei mit Syrern. Bei dem Polizeieinsatz wurden laut Polizei vier Beamte durch Pfefferspray verletzt. «Tumulte und Auseinandersetzungen wie die vom vergangenen Wochenende dürfen an keinem Ort in Essen stattfinden», erklärte danach der Essener Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU). Es seien die Personalien von mehr als 100 Menschen festgestellt worden. Die Polizei werte darüber hinaus zahlreiche Videos aus.
Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) hatte Bezüge zur Clankriminalität gesehen. «Die Kriminalität, die aus Familienstrukturen heraus begangen wird, findet nicht immer nur als organisierte Kriminalität im Hinterzimmer statt», hatte Reul bei einer Sondersitzung des Innenausschusses im NRW-Landtag gesagt. Laut Reul gehören auch spontane Gewaltausbrüche auf der Straße zum Phänomen der Clankriminalität.
Experte: historisches Spannungspotenzial
Der Berliner Islamwissenschaftler Ahmad A. Omeirate sagte, seit der syrischen Militärintervention im libanesischen Bürgerkrieg und der jahrzehntelangen Besetzung des Landes gebe es tatsächlich erhebliches historisches Spannungspotenzial zwischen den beiden Völkern. Dazu komme als Sondersituation in Essen die sehr stark angewachsene Zahl von syrischen Flüchtlingen – meist mit anerkanntem Asylstatus -, durch die sich die schon länger anwesenden Libanesen in der Stadt bedrängt fühlten.
«Das ist ein Pulverfass, das kann jederzeit wieder hochgehen.» Gewaltbereit seien aber immer nur wenige Mitglieder der beiden Gemeinschaften. Die deutliche Mehrheit habe sich von den Vorgängen distanziert, betonte Omeirate.
Die Gewalt durch angebliche patriarchalische Großstrukturen mit einheitlich krimineller Zielrichtung und einer verbreiteten Ablehnung des Staats zu erklären, greife aber zu kurz, sagte El-Kahil. «Dafür gibt es keine ausreichenden Belege in der Forschung.»
Soziologe beklagt irreführende Statistiken
Da bei Polizeikontrollen in Nordrhein-Westfalen für die Erstellung des «Lagebildes Clankriminalität» auf der Grundlage der Nachnamen nach vermeintlichen Clan-Mitgliedern recherchiert werde, tauchten geringe Alltagsverstöße als angebliche Clan-Straftaten in der Statistik auf, beklagte der Soziologe, der Kriminalitätsstatistiken verschiedener Bundesländer und des Bundes verglichen hat.
Flüchtlingen und Zuwanderern erschwere ein äußerst kompliziertes und intransparentes Aufenthaltsrecht den Start in Deutschland, sagte der Duisburger Migrationsforscher Thorsten Schlee. Besonders schwer hätten es abgelehnte und in Deutschland teils über Generationen nur geduldete Ausländer, zu denen vielfach Libanesen zählten. Allein die Duldungsgründe umfassten 20 verschiedene rechtliche Varianten.
«Die Folge ist ein starker Drall zu prekärer Beschäftigung weit unterhalb der eigentlichen Qualifizierung.» Das verschwende nicht nur volkswirtschaftliches Potenzial, sondern erzeuge auch Ablehnung gegen die hiesigen gesellschaftlichen Verhältnisse – zumal die meisten Betroffenen dauerhaft, teils lebenslang aus dem Hilfsbedarf zum Lebensunterhalt nicht hinauskämen.
«Denen die Hand reichen, die sich integrieren wollen»
Abhilfe könnten hier eine radikale Vereinfachung des Aufenthaltsrechts mit deutlich weniger Prüfpflichten, ein erleichterter Zugang zum Arbeitsmarkt und mehr Bildungsangebote schaffen, forderte Schlee. «Kriminologisch und polizeilich ist das nicht zu fassen – das verschärft nur die gesellschaftliche Spaltung.»
Die Stadt Essen verweist auf ihr Modellprojekt unter dem Motto «Chancen bieten – Grenzen setzen», das sich an junge Menschen im Duldungsstatus richtet. Über das Programm kann der Aufenthaltsstatus verbessert werden, wenn besondere Integrationsleistungen gezeigt werden. «Integration kann nur gelingen, wenn beide Seiten aufeinander zugehen», betonte der Essener OB. «Wir reichen denen die Hand, die sich integrieren wollen und ziehen die, die Unrecht tun, mit Polizei und Ordnungsbehörden zur Rechenschaft.»