Schwachstelle der Nato macht Polen und Litauen nervös
Der litauische Grenzschützer lenkt den Geländewagen über einen staubigen Feldweg. Hier, am Rand der kleinen Grenzstadt Kybartai, ist Russland zum Greifen nah: Direkt hinter den Garagen einer Plattenbausiedlung verläuft die Grenze zwischen dem EU- und Nato-Mitglied Litauen und der russischen Ostsee-Exklave Kaliningrad.
In der Vergangenheit war die Grenze an einigen Stellen unbefestigt. Doch im Jahr 2021, noch vor Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, hat Litauen einen zwei Meter hohen Zaun mit rasierklingenscharfem Nato-Draht obendrauf errichtet. «Vor dem Krieg hatten wir noch eine Zusammenarbeit mit dem russischen Grenzschutz in einigen Bereichen. Jetzt ist das vorbei», sagt Grenzschutz-Sprecherin Lina Laurinaityte-Grigiene.
Kybartai liegt in der sogenannten «Suwalki-Lücke», einem strategisch wichtigen Gebiet für die Ostflanke der Nato. Die Baltenstaaten und auch Polen fürchten, dass sich hier etwas zusammenbrauen könnte. Mit dem Begriff «Suwalki-Lücke» bezeichnet die Nato einen nur 70 Kilometer breiten Landstreifen, der zwischen Belarus und Kaliningrad liegt und sich links und rechts der litauisch-polnischen Grenze erstreckt. Benannt ist das geographisch nicht genau begrenzte Gebiet nach dem polnischen Ort Suwalki. Die Sorge: Russland könnte mit einem Vorstoß hier die Baltenstaaten von den übrigen Nato-Ländern abschneiden und so den Verteidigungswillen des Westens testen. Ein Horror-Szenario.
Der «gefährlichste Ort der Welt»
Am Wystiter See ist es so ruhig, dass man hören kann, wenn die Fische aus dem Wasser schnellen und nach Insekten schnappen. Eine Pension bietet den Gästen Sandstrand, Sauna mit Seeblick und holzofenbefeuerte Whirlpools unter freiem Himmel. Nur ein Schild ermahnt Schwimmer, auf der weiten Wasserfläche des Sees nicht über die weißen Stäbe hinauszuschwimmen. Dort ist Litauen zu Ende und Russland beginnt. Auch das Dorf Vistytis liegt in der «Suwalki-Lücke». Ist dies wirklich der «gefährlichste Ort der Welt», wie US-Medien behaupten? Pensionswirt Vilmantas Arbatauskas lacht. «Hier ist alles friedlich, alles gut. Die Touristen aus Polen, Litauen und Deutschland kommen weiterhin.»
Doch Litauen fühlt sich bedroht. Das kleine Land mit 2,8 Millionen Einwohnern blickt mit wachsendem Unbehagen auf seine Nachbarländer: Russland und seinen Verbündeten Belarus. Um dem Nato-Partner beizustehen, will Deutschland rund 4000 Bundeswehr-Soldaten als eigenständig handlungsfähigen und gefechtsbereiten Verband in dem Land stationieren. Bis Ende des Jahres sollen die Pläne für die Stationierung der Brigade ausgearbeitet werden.
In Polen ist die Nervosität noch gestiegen, seit nach dem gescheiterten Aufstand der Wagner-Armee gegen Moskaus Militärführung viele Wagner-Kämpfer im benachbarten Belarus Quartier bezogen haben. Söldnerchef Jewgeni Prigoschin war nach russischen Behördenangaben im August bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.
10.000 Soldaten in Polens Grenzregion zu Belarus
In Polens Grenzregion zu Belarus sollen 10.000 Soldaten stationiert werden. «Es geht uns darum, den Aggressor abzuschrecken, damit er nicht wagt, Polen anzugreifen», sagte Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak kürzlich. Der US-Verteidigungsexperte Ian Brzezinski vom Thinktank Atlantic Council riet kürzlich der Nato, eine Übung mit Luft-, See- und Landstreitkräften in der Suwalki-Lücke abzuhalten.
Der ehemalige Kommandeur der polnischen Landstreitkräfte, General Waldemar Skrzypczak, hält dagegen die Wahrscheinlichkeit eines russischen Vorstoßes für gering. Die abgelegene Gegend habe viele Seen, Flüsse, Wälder und Hügel. «Das ist ein sehr schwieriges Terrain für jede Armee, um einen Angriff auszuführen.» Zudem seien derzeit alle russischen Truppen in das Kriegsgeschehen in der Ukraine verwickelt. «Die Russen verfügen derzeit nicht über das Potenzial, eine militärische Operation gegen die Nato zu beginnen.» In der Bündniszentrale in Brüssel sieht man das ähnlich.
Geteilter Meinung sind die Menschen in Suwalki selbst. Die polnische Kleinstadt, die dem Korridor ihren Namen gegeben hat, macht einen verschlafenen Eindruck. «In letzter Zeit habe ich schon Angst. Und wenn die Russen angreifen, was machen wir dann und wohin sollen wir fliehen?», sagte Ewelina, Mutter von zwei Kindern. In einem Eiscafé in der Fußgängerzone sitzt ein älterer Herr. «Ich habe überhaupt keine Angst», sagt der pensionierte Mathematiklehrer Jan (66) und schleckt sein Zitroneneis, «Russland wird die Nato nicht angreifen. Das ist eher Propaganda als eine wirkliche Bedrohung.»