«Spiegel»-Chefredakteur will mehr publizistische Wucht
Die publizistische Qualität des Nachrichtenmagazins «Der Spiegel» ist nach Ansicht des neuen Chefredakteurs Dirk Kurbjuweit ausbaufähig. Der 60-Jährige sagte im Interview der Deutschen Presse-Agentur auf die Frage nach seiner Strategie: Man wolle «die publizistische Wucht des «Spiegel» weiter stärken».
Rechtspopulismus, der Angriffskrieg Putins in der Ukraine, der Konflikt im Nahen Osten - man wolle, dass Leserinnen und Leser über alle wichtigen Entwicklungen in Deutschland und der Welt besser informiert und orientiert werden als bei der Konkurrenz. «Wir sind da schon sehr gut, können aber noch besser werden», ergänzte Kurbjuweit, der seit Mai an der redaktionellen Spitze des Wochenmagazins mit einer verkauften Auflage von rund 690.000 Exemplaren steht.
Auf die Frage, was sich an der Qualität verbessern müsse, führte der Journalist, der zuletzt im «Spiegel»-Hauptstadtbüro gearbeitet hatte, aus: «Ich habe meinen Beruf immer so verstanden, dass ich ständig dazulernen will, auch mittels meiner Fehler. Wir sind kein starres System, sondern ein lernendes.» Sprache, Struktur, Gedankentiefe, Verständlichkeit, Anschaulichkeit, Originalität - das seien die Kriterien im Haus, nicht nur für den Text, auch für Audio und Video. «Wir erstellen nach und nach einen atmenden Katalog an Standards, der unsere Qualität verbessert.»
Kurbjuweit sprach sich im dpa-Gespräch auch dafür aus, Produktionsabläufe beim Heft zu verschlanken und das ganze Denken auf Digital first umzustellen. «Daran arbeiten wir.»
Wechsel an der Spitze war begleitet von internem Krach
Der Journalist äußerte sich erstmals ausführlich in einem Interview, nachdem er im Mai unerwartet an die Spitze der Redaktion mit Hauptsitz in Hamburg gerückt war. Kurbjuweit ist für seine «Spiegel»-Berichte und -Essays über Bundespolitik und große gesellschaftliche Fragen bekannt. Er beobachtete über viele Jahre Spitzenpolitiker bis hin zur damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und seither Olaf Scholz (SPD). Kurbjuweit ist neben seiner journalistischen Arbeit auch Schriftsteller von Romanen (u. a. «Angst»).
Der Wechsel an der «Spiegel»-Spitze war begleitet von internem Krach und einem Machtkampf, der bis nach außen drang. Steffen Klusmann, der das Haus mehrere Jahre geführt hatte und die Krise nach dem Fälschungsskandal um den «Spiegel»-Reporter Claas Relotius managte, musste gehen. In den vergangenen Jahren hatte es immer wieder geräuschvolle und abrupte Wechsel an der mächtigen Spitze des «Spiegels» gegeben, der zu den bekanntesten Nachrichtenmagazinen über Deutschland hinaus zählt.
Kurbjuweit sagte im dpa-Interview zum Hergang, wie er Chefredakteur wurde: «Thomas Hass, der Geschäftsführer des Verlags, hat mich bei einem Mittagessen gefragt. Ich war ziemlich überrascht, habe aber gern zugesagt.»
Das Haus sei damals aufgewühlt gewesen. «Der Wechsel hatte sich nicht angekündigt, weshalb ich den Unmut in Teilen der Redaktion nachvollziehen konnte.» Es habe eine lange Unterschriftenliste für Klusmann gegeben, aber als dann sein Name als Nachfolger veröffentlicht worden sei, hätten ihn «sehr viele zustimmende Mails von Kolleginnen und Kollegen» erreicht.
Skandal um Relotius war «schlimmste Zeit»
Auf die Frage, mit welchem Zeithorizont er für sich an der Spitze rechne, sagte der 60-Jährige, der am Freitag 61 wird: «Laut meines letzten Briefs von der Deutschen Rentenversicherung wird dort damit gerechnet, dass ich im Sommer 2029 in den Ruhestand gehe.»
Den Fälschungsskandal Ende 2018 um den preisgekrönten «Spiegel»-Autoren Claas Relotius, der in seinen Texten immer wieder betrogen hatte, bezeichnete Kurbjuweit als «schlimmste Zeit» in seinem journalistischen Leben. Der 60-Jährige ergänzte: «Ich war damals Blattmacher in der Chefredaktion und in dieser Rolle einer derjenigen, die den Betrug hätten verhindern müssen. Wir haben es nicht gesehen und hatten keinen Verdacht. Das schmerzt mich bis heute.» Man habe bitter lernen müssen, dass die eigenen Sicherungssysteme nicht für den Fall gewappnet gewesen seien, dass jemand gezielt betrügen wolle.
Auf die Frage, ob er Relotius jemals wiedersah, antwortete Kurbjuweit: «Ich habe ihn, glaube ich, mal in einer Bar in Berlin gesehen. Da tippte er auf einem Laptop herum. Und ich hatte kurz den Impuls, zu ihm zu gehen und zu fragen: Was schreibst du da?»
Gründer verstand Magazin als «Sturmgeschütz der Demokratie»
Das Haus begeht in diesen Tagen ein wichtiges Jubiläum. «Spiegel»-Gründer Rudolf Augstein wäre am Sonntag (5. November) 100 Jahre alt geworden. Der streitbare Publizist, der 2002 starb, gehörte zu den einflussreichsten und wichtigsten Medienmännern des 20. Jahrhunderts. Das als linksliberal geltende Magazin erschien erstmals 1947, also kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als Deutschland in stürmischen Zeiten und auf der Suche nach sich selbst nach der Nazi-Diktatur war. Augstein verstand sein Magazin als «Sturmgeschütz der Demokratie».
Kurbjuweit sagte im Interview: «Der «Spiegel» hat seinem Gründer viel zu verdanken. Er hat uns unsere DNA eingepflanzt: die Recherche, das genaue Hinschauen, den Satz «Sagen, was ist».» Für ihn sei Augstein sehr lebendig.