Mit dem geplanten Startchancen-Programm für Schulen in schwierigen sozialen Lagen wird nach Ansicht des Bildungsforschers Dirk Zorn ein neues Zeitalter im deutschen Bildungssystem eingeläutet. Das Programm sei ein «Paradigmenwechsel», sagte der Experte der Bertelsmann Stiftung der Deutschen Presse-Agentur.
«Es ist eine Abkehr vom bisherigen Gießkannenprinzip.» Es werde erstmals eine Verteilung von Bundesgeldern geben, die sich nicht - wie zumeist - am sogenannten Königsteiner Schlüssel orientiere, sondern in Teilen den tatsächlichen Bedarf der Bundesländer berücksichtige.
Monatelange Verhandlungen von Bund und Ländern
Über das Programm verhandeln Bund und Bundesländer seit Monaten - an diesem Freitag könnte es dem Vernehmen nach möglicherweise die abschließende Verständigung auf einer Sonder-Kultusministerkonferenz und die offizielle Vorstellung der Pläne in Berlin geben.
Ziel ist es, dass das Programm zum Schuljahr 2024/25 an den Start geht. Der Bund will jährlich bis zu einer Milliarde Euro bereitstellen. Die Länder sollen sich in gleicher Höhe beteiligen. Insgesamt wären dies dann rund 20 Milliarden Euro über zehn Jahre.
Im September hatten Bund und Länder Eckpunkte vorgelegt. Demnach soll etwa jede zehnte Schule und Berufsschule im kommenden Jahrzehnt von zusätzlicher Förderung profitieren - erreicht werden sollen rund eine Million Schülerinnen und Schüler. Zum Vergleich: Insgesamt gibt es rund 40.000 Schulen mit knapp elf Millionen Schülern in Deutschland.
Es wäre wohl noch mehr Geld nötig
Zorn sagte, mit dem Programm seien die Länder dann zum ersten Mal unter Zugzwang, einen Sozialindex für ihre Schulen einzuführen, um Schulen mit dem größten Unterstützungsbedarf zu identifizieren. «Es gibt ein klares Bekenntnis: Schulen mit sich ballenden Problemlagen brauchen mehr Unterstützung.» Zorn sagte aber auch, dass das Programm aus seiner Sicht zu klein dimensioniert sei. «Eine Milliarde pro Jahr vom Bund plus Kofinanzierung durch die Länder sind nicht ausreichend mit Blick auf die Größe der Herausforderungen.»
In Schulen in schwierigen sozialen Lagen erreichten teilweise 80 Prozent der Kinder nicht einmal die Mindeststandards in den Basiskompetenzen, sagte der Bildungsforscher. «Wichtig für die Wirksamkeit des Programms wäre, Brennpunktschulen deutlich besser mit Lehrkräften auszustatten als Schulen in privilegierten Lagen.»
Grundschulen besonders im Fokus
Positiv bewertete Zorn, dass von den 4000 Schulen, die profitieren sollen, etwa 2400 Grundschulen sein sollen. «In den Grundschulen wird die schulische Basis gelegt für eine erfolgreiche Bildungskarriere, da sind die Problemlagen besonders groß», sagte der Bildungsforscher. «Dort ist auch die Wirkung, die man erzielen kann, besonders groß für den weiteren Lebensverlauf von Schülern.»
Das Startchancen-Programm ist ein Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung. Darin heißt es, dass Kindern und Jugendlichen unabhängig von der sozialen Lage ihrer Eltern bessere Bildungschancen ermöglicht werden sollen. Gefördert werden sollen Schulen «mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler».
Die ausgewählten Schulen sollen nach Angaben aus den Eckpunkten mit Geld unterstützt werden, damit sie in eine bessere und moderne Lernumgebung investieren können. Dazu kommen Gelder zur freien Verfügung der Schulen - ein sogenanntes Chancenbudget. Außerdem sollen zusätzliche Stellen geschaffen werden, etwa für Schulsozialarbeit.
Bildungsstudien zeigen Abnahme der Kompetenzen von Schülern
Hintergrund ist die Erkenntnis, dass in Deutschland der Erfolg eines Kindes in der Schule weiterhin stark vom Elternhaus abhängt. Bildungsstudien zeigen zudem eine Abnahme der Kompetenzen. Viele Kinder scheitern in der Grundschule am Lesen, Schreiben, Rechnen, bleiben zurück und schaffen später dann auch keinen Abschluss.
Erst im Dezember hatten Ergebnisse einer neuen Pisa-Studie gezeigt, dass deutsche Schülerinnen und Schüler im Jahr 2022 so schlecht abschnitten wie noch nie zuvor. Sowohl im Lesen als auch in Mathematik und Naturwissenschaften handelte es sich den Angaben zufolge um die niedrigsten Werte, die für Deutschland jemals im Rahmen von Pisa gemessen wurden.