Strafverfahren gegen Wagner-Chef läuft noch
Der wegen einer Rebellion gegen Moskaus Militärführung im Kreml in Ungnade gefallene Söldnerchef Jewgeni Prigoschin sollte auf freiem Fuß in Belarus sein. Doch seit dem letzten Lebenszeichen auf seinem Kanal bei Telegram, wo er am Samstag den Aufstand zur Abwendung eines großen Blutbades in Russland für beendet erklärte, fehlt von dem sonst so kommunikationsfreudigen 62-Jährigen jede Spur.
Zwar gehen die russischen Behörden schon seit Tagen mit Razzien gegen Prigoschins Stabsquartier in St. Petersburg vor, beschlagnahmten Geld und Gold. Die Gefahr gilt aber als nicht gebannt, weil im Grunde eine vollwertige Armee mit Panzern, Hubschraubern und Scharfschützen außer Kontrolle geraten könnte.
Demonstrativ ließen Behörden in den russischen Regionen Plakate abreißen, mit denen Prigoschin Kämpfer für seine Privatarmee Wagner anwerben wollte. Er versprach bessere Führung, mehr Geld und soziale Wohltaten als das Verteidigungsministerium für den Einsatz im Kriegsgebiet in der Ukraine. Sein Ärger über die «Unfähigkeit» des Ministeriums führte Ende vergangener Woche zu einer offenen Rebellion gegen Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow.
Die konkreten Forderungen seines Blitzaufstandes samt dann später abgeblasenem Marsch gen Moskau blieben zwar nebulös. Aber klar dürfte sein, dass sich der extrem reiche und einflussreiche Chef der Söldnertruppe nicht von Schoigu unterbuttern lassen wollte. Die Wagner-Truppe erwies dem Kreml viele Dienste auch in Afrika, im Nahen Osten und vor allem in der Ukraine. Zum Ärger Prigoschins hatte Schoigu angewiesen, bis 1. Juli - also bis Samstag – alle etwa 40 Freiwilligenverbände, darunter auch Wagner, unter den Befehl des Verteidigungsministeriums zu stellen. Prigoschin lehnte das kategorisch ab. Er setzte auf eine gewaltsame Lösung seines Dauerkonflikts - und scheiterte.
Verteidigungsministerium zeigt Schoigu in einem Video
Während Prigoschins Aufenthalt ungeklärt ist, veröffentlichte das russische Verteidigungsministerium am Montag zumindest ein Video, auf dem Schoigu in Uniform zu sehen war. Wann das Video aufgenommen wurde, ist unklar. Zu hören ist von Schoigu nichts – wie auch von Kremlchef Wladimir Putin, der die Drahtzieher des Aufstandes am Samstag als «Verräter» bezeichnete – und so auch öffentlich brach mit Prigoschin, der lange sein Vertrauter war. Putin erklärte da auch, dass er den russischen Streitkräften den Befehl gegeben habe, die Aufständischen ihrer «unausweichlichen Bestrafung» zuzuführen.
Als die Wagner-Truppe nach Verhandlungen aus den besetzten Militärobjekten im südrussischen Rostow am Don abzog, teilte der Kreml am Samstagabend überraschend mit, die Strafverfahren gegen Prigoschin und seine Kämpfer würden eingestellt. Viele Kommentatoren zeigten sich erstaunt angesichts von Putins Milde, weil er sonst im Ruf steht, mit Verrätern kurzen Prozess zu machen. Die Rede war deshalb von einer Schwächung Putins, von Kontroll- und Machtverlust des Kremlchefs. Doch russische Medien berichteten am Montag, die Ermittlungen gegen Prigoschin seien noch nicht eingestellt.
Während Moskaus Staatsmedien einmal mehr die Hand westlicher Geheimdienste hinter der Revolte sahen – mit dem Ziel, die Lage in Russland zu destabilisieren -, fragten unabhängige Medien vielmehr erneut, wie es sein konnte, dass etwa der Inlandsgeheimdienst FSB nichts von Prigoschins Plänen wusste – oder davon Kenntnis hatte und untätig blieb. Diskutiert wurde zudem, warum sich die Streitkräfte den Wagner-Kämpfern nicht entschlossen entgegenstellten.
Moral in der russischen Armee gilt als schwer angeschlagen
Klar ist zwar, dass Schoigus Armee in der Ukraine in einem für Russland chaotischen Krieg weitgehend gebunden ist. Aber Militärblogger wiesen auch darauf hin, dass sich Teile der Armee wohl passiv verhielten, um den Ausgang des Konflikts abzuwarten. Die Moral der russischen Soldaten gilt wegen der vielen Niederlagen im Krieg als schwer angeschlagen. Prigoschin hatte mehr Einsatz Russlands gefordert, um der ukrainischen Gegenoffensive zu widerstehen. Er warnte immer wieder vor einer Niederlage im Krieg.
Dass sich Prigoschin niemand ernsthaft entgegenstellte, dürfte nicht nur Minister Schoigu, sondern auch Putin zu denken geben. Es ist unübersehbar, dass das Gewaltmonopol des Kremlchefs Risse hat. Vor allem wurde einmal mehr deutlich, dass die Zeit, in der Putin als ein Garant für Stabilität der nach den USA zweitgrößten Atommacht galt, vorbei ist. Nach mehr als 23 Jahren an der Macht gilt der 70-Jährige inzwischen als geschwächt, kann allem Anschein nach die verschiedenen Interessensgruppen kaum noch ausgleichen – auch wenn er diesen beispiellosen Machtkampf vorerst für sich entschied.
Teile der Wagner-Truppen sollen nun zwar in das Verteidigungsministerium eingegliedert werden, während die Schäden von ihren Panzern an Straßen und Gebäuden in den Regionen beseitigt und die Toten des Aufstandes begraben werden. Aber viele Fragen sind offen – etwa zur Zukunft der geheimen Feldlager Prigoschins, wo sich seine Kämpfer verschanzen könnten. Das russische Parlament arbeitet an einer Regulierung der Arbeit privater Militärfirmen.
Experten des US-Instituts für Kriegsstudien ISW interpretieren solche Initiativen auch als Wunsch der russischen Führung, Söldner vom Schlage Wagners weiterhin in internationalen Konflikten einzusetzen. Russlands Außenminister Sergej Lawrow kündigte bereits an, dass Moskau seine Militärpräsenz in Afrika aufrecht erhalten werde - diese wurde jahrelang durch Wagner-Söldner ausgeübt.
Wagner-Chef zwischen Tötungsaufrufen und Leben in Belarus
Die Augen richteten sich aber vor allem auf Prigoschin selbst – nicht wenige wie der Duma-Abgeordnete Andrej Guruljow forderten seinen Tod. «Eine Kugel in die Stirn ist die einzige Rettung für Prigoschin», sagte er. «Ich bin fest davon überzeugt, dass man Verräter in Kriegszeiten vernichten muss.» Viele in der Elite sehen sich nun durch einen aus ihren Reihen verraten. Prigoschin mit seinen ultrarechten und nationalistischen Ansichten gehörte zur Machtbasis Putins, die nun bröckeln könnte.
Und der Wagner-Chef selbst sah sich enttäuscht, weil Putin seinen Rufen nach einem entschlossenerem Einsatz im Krieg nicht folgte. Prigoschin habe selbst nicht vorgehabt, mit der Revolte die Macht an sich zu reißen, meinte die Politologin Tatjana Stanowaja. Er habe vielmehr aus Verzweiflung gehandelt, weil er durch den Zugriff des Verteidigungsministeriums auf die Strukturen der Privatarmeen um die Existenz von Wagner gefürchtet habe.
Prigoschin habe Putins Aufmerksamkeit gewollt – und Geld, Sicherheit und komfortable Bedingungen für seine Arbeit. «Mit solchen Forderungen gehst du nicht los, um die Regierung zu stürzen», sagte sie. Mit seinem Plan sei Prigoschin gescheitert, habe das eingesehen und deshalb aufgegeben. «Putin konnte ihm so zusichern, sein Leben zu verschonen, wenn Prigoschin ruhig in Belarus sitzt.»