Tristesse in Warschau: Flicks DFB-Team tief im Krisenmodus
Rudi Völler verspürte keine Lust, den nächsten Mittelklassekick der Fußball-Nationalmannschaft zu kommentieren. Bedrückt verließ der DFB-Sportdirektor das große Warschauer Nationalstadion, zuvor war auch schon Verbandspräsident Bernd Neuendorf in den Katakomben ohne Halt an den deutschen Reportern vorbeigelaufen.
Was in den Spitzenfunktionären nach dem 0:1 gegen eine biedere polnische Auswahl vorging, war auch ohne Wortmeldungen zu erahnen. Ihre klare Aufgabe, die vergraulten Fans nach dem WM-Aus in Katar mit begeisterndem Fußball zurückzugewinnen, hat Bundestrainer Hansi Flick nicht erfüllt – im Gegenteil.
Flick kann Zweifel und Kritik «durchaus verstehen»
Ein Remis mit haarsträubenden Fehlern gegen die Ukraine, eine Niederlage gegen Polen, Flicks öffentlicher Schlingerkurs im Umgang mit seinen Spielern. Selbst ein Sieg am Dienstag (20.45 Uhr/RTL) gegen den Weltranglisten-17. Kolumbien wird die Stimmung in diesem Sommer ein Jahr vor der Heim-EM kaum nachhaltig zum Guten wenden. Erfolge seien jetzt «elementar», erkannte Flick, der von seinem Plan aber nicht abrückt.
Er könne die Zweifel und die Kritik «durchaus verstehen», sagte der Bundestrainer spät am Abend mit ruhiger Stimme. «Aber es gibt natürlich auch Phasen, die dann so verlaufen. Und ich bin absolut überzeugt von dem Weg, den wir gehen.» Das Engagement könne seinem Team nicht abgesprochen werden. Für die letzte Juni-Partie wird Champions-League-Sieger Ilkay Gündogan auf den Platz zurückkehren, kündigte der Bundestrainer an.
Am Tag danach war Völler vor dem Rückflug des DFB-Trosses nach Frankfurt/Main bemüht, das Positive hervorzuheben. «Von der ersten Halbzeit waren wir alle enttäuscht», sagte der einstige DFB-Teamchef. «In der zweiten Halbzeit ist die Mannschaft so aufgetreten, wie wir das erwarten. Sie hat die richtige Reaktion auf den Rückstand zur Pause gezeigt.» Ein Erfolgserlebnis «hätte der Mannschaft natürlich gutgetan».
Die ersten Internetportale eröffneten am Samstagmorgen Umfragen, ob Flick noch der Richtige sei. Welche Dynamik sich bei einem ernüchternden Remis oder gar einer Niederlage zum Saisonabschluss in Gelsenkirchen entwickeln würde, ist leicht vorherzusehen. Auf die Frage, ob es die Mannschaft belaste, dass Flick medial infrage gestellt werde, antwortete Kapitän Joshua Kimmich: «Ich hatte bisher noch nicht das Gefühl. Ich hoffe, dass es den Bundestrainer auch nicht belastet, weil wir als Mannschaft stehen hinter ihm.»
DFB-Auswahl bleibt in Polen torlos
Gegen Polen hatte der Bundestrainer die Startelf auf neun Positionen verändert und sich zuvor wie eine Löwenmutter vor die verunsicherten Spieler gestellt. Zu Beginn des Lehrgangs war Flicks öffentliche Kritik am nicht nominierten Niklas Süle das große Thema gewesen. Auf der Position des Dortmunders im Abwehrzentrum war in Warschau immerhin Debütant Malick Thiaw ein Lichtblick. Ein «Highlight, wenn man das heute so sagen kann», äußerte Flick über den 21-Jährigen, der seit einem Jahr für die AC Mailand aufläuft. Auch Völler sprach von einem «sehr starken» Debüt.
«In der ersten Halbzeit war schon zu spüren, dass wir viel auf Fehlervermeidung aus waren», sagte Kimmich. «Da wollten wir nicht zu viel riskieren, weil schon im Kopf ist, dass wir Spiele gewinnen müssen.» Die zweite Hälfte war deutlich besser, aber der gute polnische Torwart Wojciech Szczesny vereitelte mehrere deutsche Großchancen. Der Ausgleich fiel nicht, das bleibt in Erinnerung.
«Es ist schon erschreckend, dass wir es dann nicht hinkriegen, da irgendwie ein Tor zu schießen», sagte der spät eingewechselte Stürmer Niclas Füllkrug. «Und dass dann hinten eine Ecke reinfliegt, beschreibt unsere Situation ziemlich gut.» Den entscheidenden Treffer erzielte Jakub Kiwior (31.). Der zweimalige Weltfußballer Robert Lewandowski spielte bei den Polen nur 45 Minuten. Der Ex-Bayern-Star war danach bemüht, Mut zu machen: «Ein Jahr ist viel Zeit. Nicht nur bei Deutschland gibt es einen Generationswechsel», sagte Lewandowski. «Mit den Spielern, die Deutschland hat, kann man auch positiv nach vorn schauen.»
Schweinsteiger fordert mehr Mentalität
Im Stadion verfolgten nur wenige Hundert deutsche Fans, wo die DFB-Auswahl ein Jahr vor der EM steht. Am Bildschirm schauten in der ARD im Schnitt 5,92 Millionen Interessierte zu. Lust auf mehr Flick-Fußball werden die wenigsten davon verspürt haben.
«Ab September muss Tacheles gesprochen werden, müssen Automatismen rein und die Mentalität da sein», mahnte Ex-Weltmeister Bastian Schweinsteiger in seiner Funktion als ARD-Experte. In knapp drei Monaten spielt die Nationalmannschaft gegen WM-Schreck Japan und Vize-Weltmeister Frankreich. «Wir wollen Gegner haben, die uns einfach fordern», äußert Flick. Dann sei es «auch wichtig, dass man eine hundertprozentige Einstellung und Mentalität auf den Platz bringt», sagte der Bundestrainer. «Das sind die Dinge, die wir von der Mannschaft erwarten. Das sind Spiele auf einem sehr hohen Niveau, das kann uns nur nach vorn bringen.»