Kurz vor der geplanten Wiederaufnahme indirekter Verhandlungen über eine vorläufige Waffenruhe im Gaza-Krieg führt Bundeskanzler Olaf Scholz an diesem Sonntag erneut Gespräche in Israel. «Wichtig wäre, dass es jetzt ganz schnell zu einer Verständigung kommt über eine Waffenpause, die es ermöglicht, dass die Geiseln freigelassen werden und die gleichzeitig auch humanitäre Hilfe nach Gaza kommen lässt», sagte der SPD-Politiker vor seinem Abflug.
Örtlichen Medienberichten zufolge will Israels Kriegskabinett am selben Tag, an dem Scholz unter anderem mit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zusammenkommt, über die Entsendung einer Delegation nach Katar entscheiden. Dort sollen in der Hauptstadt Doha die zuletzt ins Stocken geratenen Gespräche über eine Waffenruhe weitergehen, nachdem die islamistische Hamas den Vermittlern einen neuen Vorschlag vorgelegt hatte.
Luftwaffe plant weiteren Abwurf von Hilfsgütern
Scholz will zunächst in Jordanien König Abdullah II. treffen, bevor er nach Israel weiterreist. «Wir haben eine schwierige Situation. Es ist notwendig, dass jetzt Hilfe in größerem Umfang nach Gaza gelangt», sagte er. Am selben Tag, da der Bundeskanzler neben Netanjahu auch mit Israels Präsident Izchak Herzog und anderen über die Lage in dem seit nun schon mehr als fünf Monaten andauernden Krieg spricht, plant die deutsche Luftwaffe einen weiteren Abwurf von Hilfsgütern über dem Kriegsgebiet.
Eine erste Lieferung unter anderem mit Reis und Mehl für die Not leidende Bevölkerung hatte die Luftwaffe am Samstag an Fallschirmen über dem Norden des abgeriegelten Küstenstreifens abgesetzt. Dort ist die Versorgungsnotlage besonders schlimm. Nach Erkenntnissen des UN-Kinderhilfswerks Unicef sind dort inzwischen 31 Prozent der Kinder unter zwei Jahren akut mangelernährt.
Erneut Proteste in Israel gegen Netanjahu-Regierung
Einen Tag vor dem Kanzlerbesuch haben Tausende Menschen in Tel Aviv und anderen israelischen Städten für die Freilassung von Geiseln aus der Gewalt der Hamas und gegen die Regierung von Ministerpräsident Netanjahu demonstriert. Mancherorts legten Menschen kleinere Feuer, zündeten Rauchbomben und forderten in Sprechchören die Freilassung der Geiseln. Um einzelne Ansammlungen aufzulösen, setzte die Polizei Wasserwerfer ein. Angehörige der Geiseln forderten ein neues Abkommen für die Freilassung und riefen die Regierung zu schnellem Handeln auf. «Sie haben keine Zeit mehr, wir haben keine Zeit mehr. Macht etwas jetzt, wir brauchen euch!», sagte eine Angehörige bei einer Kundgebung.
Neuer Hamas-Vorschlag weckt Hoffnung
Die Hamas hatte zuvor im Zuge der Vermittlungsgespräche einen neuen Vorschlag vorgelegt, in dem sie nicht mehr verlangt, dass Israel den Krieg beendet, bevor die ersten Geiseln gegen palästinensische Häftlinge in israelischen Gefängnissen ausgetauscht werden. Dem Vorschlag zufolge würden die Islamisten die Einstellung der Kampfhandlungen durch Israel erst zur Voraussetzung für eine zweite Phase der Geiselfreilassungen machen. Damit näherte sich die Hamas den Inhalten eines mehrstufigen Plans an, den die Vermittler USA, Ägypten und Katar vor mehreren Wochen vorgelegt hatten und den Israel akzeptiert hatte. Der neue Vorschlag der Islamisten scheint Anlass zu vorsichtigem Optimismus zu geben.
Israels Ministerpräsident Netanjahu tat den neuen Vorschlag zwar als «unrealistisch» ab. Gleichzeitig hieß es aber, Israels werde eine Delegation nach Katar schicken. Das Sicherheitskabinett will laut örtlichen Medien am Sonntagabend über die israelische Position entscheiden. Demnach würde der Chef des Auslandsgeheimdienstes Mossad, David Barnea, erst am Montag mit seiner Delegation nach Doha aufbrechen. Damit würden erstmals seit zwei Wochen wieder israelische Verhandler an den indirekt geführten Gesprächen in Katar teilnehmen.
Am 7. Oktober hatten Terroristen der Hamas und anderer Gruppierungen im Zuge eines Massakers in Israel rund 250 Menschen verschleppt. Während einer Feuerpause Ende November kamen 105 Geiseln frei. Israelischen Regierungsangaben zufolge sind noch rund 100 Geiseln am Leben. Das Massaker war der Auslöser des Krieges im Gazastreifen.
Scholz warnt vor Offensive in Rafah
Es brauche eine Waffenruhe, die «die nächste Zeit» anhalte, sagte derweil Bundeskanzler Scholz vor Beginn seiner Unterredung in Israel. Im Mittelpunkt werden die israelischen Vorbereitungen auf eine Bodenoffensive in Rafah im Süden des Gazastreifens stehen, vor der Scholz eindringlich warnt. «Wir machen uns Sorgen über den weiteren Fortgang der militärischen Entwicklung.» Insbesondere sei die Gefahr, dass es bei einer umfassenden Offensive in Rafah zu sehr vielen zivilen Opfern kommen könnte. Das müsse unbedingt vermieden werden, sagte der Bundeskanzler am Samstag vor Antritt seiner zweitägigen Reise. In Rafah suchen derzeit nach Schätzungen 1,5 Millionen Palästinenser auf engstem Raum und unter elenden Bedingungen Schutz vor den Kämpfen in den anderen Gebieten des Gazastreifens. Hilfsorganisationen warnen vor vielen weiteren zivilen Todesopfern.
Ein israelischer Armeesprecher hatte am Freitag bekräftigt, im Falle eines Militäreinsatzes in Rafah müsse die Bevölkerung in Sicherheit gebracht werden. Man vermute in der Stadt an der Grenze zu Ägypten nicht nur die Führung der Hamas, sondern dort befänden sich auch die verbliebenen Bataillone der islamistischen Terrororganisation, sagte Sprecher Arye Shalicar. Netanjahu bekräftigt zuvor, Israel werde trotz des internationalen Drucks nach Rafah vordringen. Ein Sieg über die Hamas ohne einen Einsatz in der Stadt sei nicht möglich.