Wenn Russland aus der Luft angreift, kann es für die Ukrainer um Minuten gehen und manchmal nur um Sekunden. «Huzul» (20), Kommandant eines Flugabwehrkanonenpanzers Gepard, hat den mit Bolzen gesicherten Turm des Panzers, der rechts und links die Maschinenkanonen trägt, dann schon entriegeln lassen.
Das Radar am Heck dreht sich hektisch zur Zielerfassung. «Ich halte den Kontakt zum Gefechtsstand und warte auf den Feuerbefehl», sagt der junge Mann östlich der ukrainischen Hafenmetropole Odessa. Er wurde im vergangenen Jahr in Deutschland ausgebildet und schützt nun Infrastruktur.
Den Moment eines Abschusses beschreiben die Soldaten als eine erlösende Freude, die auf die enorme Anspannung folgt. 30 bis 40 Schuss hämmern die Maschinenkanonen dann rechnergesteuert auf das Ziel. Vor allem die langsamen Drohnen sind relativ leicht zu zerstören, wenn sie denn in Reichweite sind. Der Richtkanonier ist 21 Jahre alt und sein Rufname ist «Odessa». «Wir lassen sie möglichst nah kommen. Dann ist die Erfolgsrate höher», sagt er.
Moskau: Odessa «ist unsere russische Stadt»
Die «Gepard»-Besatzung gehört zu den Männern und Frauen, die in dem Abwehrkampf immer wieder an vorderster Stelle bestehen müssen. Mehrfach wird am Donnerstag im Raum Odessa Luftalarm ausgelöst. Und zwei Jahre nach dem Beginn des Angriffs lässt die Führung in Moskau auch politisch keinen Zweifel an ihren militärischen Ambitionen erkennen. Im Gegenteil: Russlands Ex-Präsident Dmitri Medwedew spricht sich für die Annexion Odessas aus, später womöglich auch die Einnahme der Hauptstadt Kiew. «Odessa, komm nach Hause zurück», sagt er als Vizechef des russischen Sicherheitsrates. Und betont: «Das ist unsere russische Stadt.»
Dass Russland in dieser Form vorstoßen könnte, scheint nicht realistisch. Moskau in einen Rückzug oder gar eine Niederlage zu zwingen, scheint aber auch in weiter Ferne. Mit Sorge beobachten westliche Militärexperten, wie die russische Rüstungsindustrie unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft ihre Produktion über den Bedarf für den Ukraine-Krieg hinaus steigert. Die Ukraine beklagt derweil einen Mangel an Artilleriemunition, Flugabwehr und weitreichenden Waffen wie des deutschen Marschflugkörpers Taurus.
Auch in den Staaten der EU ist der Pessimismus gewachsen
Auch in wichtigen Staaten der EU wachsen Zweifel. Laut einer Studie der Denkfabrik «European Council on Foreign Relations» (ECFR) in zwölf Ländern gehen im Schnitt nur noch etwa zehn Prozent der Befragten von einem Sieg der Ukraine aus. Nach der vor dem zweiten Jahrestag der russischen Ukraine-Invasion veröffentlichten Untersuchung gehen die Befragten überwiegend davon aus, dass eine «Kompromisslösung» den Krieg beenden wird.
Der Ausgang des Ukraine-Krieges wird ganz überwiegend als folgenreicher für das eigene Land beurteilt im Vergleich zu den Folgen des Gaza-Kriegs. Und sollte Donald Trump wieder US-Präsident werden, meint eine Mehrheit der Befragten, sollte Europa seine Unterstützung für die Ukraine entweder beibehalten oder verstärken.
Maxym kämpft sich ins Leben zurück
Für Maxym (34) war der Kampf gegen die russischen Angreifer am 8. Januar 2023 vorbei, als bei einem Kampfeinsatz bei Luhansk eine Granate in seiner Nähe schlug. Er habe auf einem Fahrzeug gesessen und sei im Kopf und an Armen und Beinen von Splittern getroffen worden. Zwischen Leben und Tod habe er geschwebt, und sei gerettet worden, erzählt Maxym. Zwei Splitter hat er noch im Kopf, einen davon im Gehirn.
Mühsam hat er sich im Reha-Zentrum Motus in Odessa ins Leben zurückgekämpft. Mit Krafttraining und motorischen Übungen arbeitet er gegen noch unrund wirkende Bewegungen an, auch die Sprache ist schwerfällig. Trotzdem. «Wir haben nur ein Leben. Niemals aufgeben», sagt er und lächelt breit.
Staub und Trümmer - die Verklärungskathedrale wird repariert
Hammerschläge und das kreischende Geräusch von Trennschleifern schallen durch die Säulenhalle der Verklärungskathedrale in Odessa. Sie war in der Nacht zum 23. Juli vergangenen Jahres bei einem Raketentreffer beschädigt worden. Die Lichtstrahlen lassen den Staub in der Luft glitzern, aber das wie von einer Mehlschicht bedeckte Gold der Fassadentrümmer schimmert nur matt.
Erst 2010 war der Wiederaufbau des Gotteshauses abgeschlossen worden, dessen Zerstörung Stalin 1936 angeordnet hatte. «Die Geschichte wiederholt sich», sagt Vater Olexij. Die Zerstörung sei über Odessa hinaus eine Wunde im Herzen. Wann der Aufbau fertig sein werde, hänge auch von einer Finanzierung aus Italien ab.
Die Professorin und der Krieg: «Wir sind alle müde»
In den ersten Monaten habe es das starke Gefühl der Einigkeit und Mobilisierung gegeben, während am Horizont russische Kriegsschiffe schwammen und die Stadt bedrohten, sagt Oxana Dowhopolowa, Philosophie-Professorin an der Nationalen Universität Odessa. Dieses Bedrohungsgefühl sei weg. Nun herrsche quälende Ungewissheit, ob dieser Krieg womöglich noch mehrere weitere Jahre dauern werde.
Fast protestierend weist sie die Frage zurück, ob sie das Land verlassen würde. Aber: «Wir sind alle müde. Niemand weiß, was als Nächstes passiert», sagt sie.
Russland ist an der Front in der Initiative
Der militärische Chefkoordinator der deutschen Ukraine-Hilfe, Generalmajor Christian Freuding, sieht die Entschlossenheit des Landes zur Abwehr des russischen Angriffskriegs ungebrochen. Die militärische Lage der Ukraine sei aber angespannt, sagt Freuding, der vor zwei Wochen zu Gesprächen in Kiew war. Am Wochenende hatten ukrainische Kräfte das umkämpfte Awdijiwka aufgeben müssen.
Mit Ausnahme dieses Gebietes gebe es auf der taktischen Ebene einen relativ unveränderten Verlauf der über 1000 Kilometer langen Frontlinie, sagt Freuding. Räumlich begrenzt würden aber intensivste Gefechte geführt. «Russland ist entlang dieser Frontlinie weit überwiegend in der Initiative», stellt er fest. Und: «Wir sind der Überzeugung, dass die Ukraine gewinnen kann. Dem gilt unsere ganze Kraft, unsere Anstrengungen und die unserer Partner.»