Frau Abele, Sie sind seit 1987 an der Egauschule in Dischingen. Erst als Lehrerin, dann als Konrektorin und seit 2015 als Schulleiterin. Was hat sich fundamental geändert in dieser Zeit?
Ganz klar die Gesellschaft. Der Umgang zwischen Eltern, Lehrern und Schülerinnen und Schülern hat sich wirklich komplett verändert. Die Rolle der Lehrkraft hat sich vom Wissensvermittler zum Lernbegleiter und Coach entwickelt. Auch Schüler verhalten sich heute ganz anders. Die Schüler von heute stehen vor anderen Herausforderungen. Digitalisierung und soziale Medien spielen eine immer größere Rolle im Schulalltag.
Wie macht sich das bemerkbar?
Die Digitalisierung hat den Schulalltag verändert. Der Einsatz von Computern, interaktiven Whiteboards, die Einführung von Laptops und Lernplattformen beeinflusst unseren Unterricht und hat stark an Bedeutung gewonnen. Auch das Handy gehört bei allen Schülern zum Alltag und der Umgang damit im Schulalltag bringt manche Probleme mit sich. Wir haben an unserer Schule eine ganz klare Regelung in Absprache mit den Eltern. Die Klassen 5, 6 und 7 geben ihre Handys jeden Morgen ab und bekommen sie nach Unterrichtsende wieder. Auch für die oberen Klassen gilt: Während des Unterrichts ist das Handy ausgeschaltet im Rucksack. Das erleichtert vieles.
Seit dem Schuljahr 2012/13 ist die Egauschule Gemeinschaftsschule. Die Kinder lernen länger gemeinsam in unterschiedlichen Niveaustufen, Noten gibt es erst ab Klasse 8 und eine Festlegung auf den Schulabschluss erfolgt auch erst in den Stufen 8 und 9. Kommt das Konzept an?
Ja, wir haben guten Zulauf. Wir sind stetig zweizügig und ich kann mittlerweile nicht mehr jeden Schüler aufnehmen – vor allem in den oberen Klassen nicht. Unsere Schüler schneiden im Vergleich auch richtig gut ab.
Der Imagewechsel weg von der Hauptschule hin zur Gemeinschaftsschule scheint aber noch nicht überall vollzogen zu sein.
Das stimmt. Und das ist vor allem in den umliegenden kleineren Ortschaften der Fall. Es scheint noch in den Köpfen verankert zu sein, dass man hier bei uns „nur“ den Hauptschulabschluss machen kann. Wir sind bemüht, das zu ändern. Und ganz langsam gelingt uns das auch. Und übrigens möchte ich ergänzen: Ein guter Hauptschulabschluss ist ein guter Hauptschulabschluss. Wir brauchen unsere Hauptschüler. Überall fehlen uns diese Kräfte. Wir haben nicht wenige gute Beispiele, die etwa im Handwerk wunderbar Fuß gefasst haben. Auch hier muss dringend ein Umdenken stattfinden.
Ein Kernprinzip der Gemeinschaftsschule ist es, die Kinder länger gemeinsam lernen zu lassen, es gibt also keine Differenzierung nach Klasse 4, sondern erst nach Klasse 8. In skandinavischen Ländern etwa wird längeres, gemeinsames Lernen erfolgreich praktiziert. Wer skeptisch sein möchte, sagt, das sei eine rein zeitliche Verzögerung der Entscheidungsfindung.
In Klasse 4 sind die Schüler 10. Da ist es meiner Meinung nach viel zu früh. Wir sehen ja hier, wie toll die Kinder sich bei uns entwickeln, wenn man ihnen mehr Zeit gibt. Wenn wir in Klasse 8 entscheiden, welchen Weg das Kind gehen wird, hat es die Eintrittsphase in die Pubertät schon hinter sich. Es kann nicht zuletzt deshalb schon ganz anders auf einen möglichen Schulabschluss und seine Relevanz blicken, als ein Viertklässler das kann. Andere Länder wie Finnland zeigen, welchen Erfolg das haben kann.
Das kann Druck rausnehmen, aber wie steht es um den Ansporn nach vorn? Fällt der nicht unter den Tisch?
Nein, unsere Schüler haben ja immer die Möglichkeit, im höheren Niveau zu lernen. Unser System nimmt unbedingt Druck raus. Die Kinder kommen bei uns erstmal an und wir schauen, in welchen Niveaus sie arbeiten können. Es gibt das Grundniveau, das Realschulniveau und das Gymnasialniveau. Wir bieten alle drei an. Im Klassenverbund wird in Kleingruppen viel individuell gelernt, wir haben dann auch mehrere Lehrkräfte in der Klasse. Wer mehr will, kann sich im Niveau immer steigern. Wo sich die Kinder einpendeln, zeigt sich mit der Zeit und kann von Fach zu Fach und von Thema zu Thema variieren.
Grundsätzlich kann ein Schüler bei Ihnen jeden Schulabschluss ablegen, den es an deutschen Regelschulen gibt. Sprich, bei Ihnen kann man den Hauptschulabschluss machen, den Realschulabschluss und die Grundlagen fürs Abitur legen. Das ist ein immenser Spagat.
Stimmt – und das ist auch unsere Stärke. Bei uns haben Schüler Chancen, die sie anderswo vielleicht nicht haben. Manchmal entscheidet ein Zehntel im Notendurchschnitt über den Werdegang. Manchmal kann ein Zehnjähriger noch nicht mit dem Druck umgehen, den ein reguläres Gymnasium oder eine Realschule ihm vielleicht macht. Oder nehmen Sie die bayerischen Schüler, deren Grundschulempfehlung noch deutlich strenger ist. Unsere Erfahrung zeigt, dass das nicht die Realität abbildet und unsere Schüler sich im Verlauf unheimlich entwickeln. Unsere Stärke ist die Durchlässigkeit. Wer in der Sekundarstufe 1 das Gymnasium doch nicht schafft, muss die Schule wechseln. Bei uns bleibt er im Klassenverbund und kann sich vielleicht auch wieder fangen.
In der Theorie klingt das toll. Wie viel Bildungsromantik ist hier im Spiel?
Das ist keine Bildungsromantik. Wir erleben hier die Praxis und sehen die Werdegänge unserer Schüler. Logisch, ein klarer Einser-Schüler kann ein allgemeinbildendes Gymnasium besuchen, aber in unserer Schullandschaft gibt es mehr und vor allem sehr unterschiedliche Kinder. Wir können auf sie eingehen, weil wir flexibler sind.
Ich schätze, das System Gemeinschaftsschule erfordert sehr viel Engagement und Einsatz seitens Ihrer Lehrkräfte.
Ja, das stimmt. Aber unsere Lehrer sind sehr überzeugt von diesem Konzept und kommen auch nicht unvorbereitet aus dem Studium und Referendariat.
Noten gibt es bei Ihnen erstmal nicht. Sind Sie überzeugt von diesem System? So mancher braucht sicher die klare Bewertung seiner Leistung.
Ja, bis Klasse 8 gibt es bei uns keine Noten. Außer Schüler und Eltern wollen das unbedingt. Wir bewerten die Leistung in Gesprächen und in einem ausführlichen Entwicklungsbericht. Ab Klasse 8 geben wir Noten, damit die Schulabgänger eben auch außen, also auf dem Arbeitsmarkt, leichter auftreten können.
Nochmal zurück zum Abitur. Wer möchte, kann in Dischingen den Weg zum Abitur einschlagen, ablegen kann man es hier aber nicht. Hierzu müssen die Schüler die Oberstufe an einem allgemeinbildenden oder beruflichen Gymnasium durchlaufen. Nehmen das Schüler auf sich?
Ja, wir haben einige Schüler, die von uns weggehen und in Heidenheim die gymnasiale Oberstufe und das Abitur machen. Wichtig zu wissen ist, dass es sinnvoll ist, an einem allgemeinbildenden Gymnasium die Klasse 10 dann nochmal zu belegen, zumindest im seitherigen G8.
Ihre Schule hat ein weites Einzugsgebiet. Nattheim, Neresheim, Bachtalgemeinden und gar Wittislingen – die Schüler kommen von überall her.
Wie alle anderen weiterführenden Schulen leben wir auch von unserem Einzugsgebiet, klar. Aber die Schüler finden sich schnell zusammen. Für Dischingen ist die Schule ein Gewinn, weil sie auch Standortsicherung bedeutet.
Unterm Strich ist es gefühlt ruhiger geworden um das Konzept Gemeinschaftsschule. Ihre Meinung: Brauchen wir mehr davon?
Wir sehen die Entwicklung der Kinder und haben Erfolg mit dieser Schulform. Die Wissenschaft ist heute viel weiter und warum sollte sich alles ändern dürfen, aber unser Schulsystem nicht?
Frau Abele, zum Abschluss eine Runde Wünsch-dir-was: Wenn Sie es richten müssten, was würden Sie direkt ändern in unserer Schullandschaft?
Ich würde den Klassenteiler herabsetzen und versuchen, mehr Lehrer zur Verfügung zu stellen. Auch die Referendare könnten viel mehr in die Praxis eingebunden werden. Für Lehrkräfte müsste der bürokratische Aufwand reduziert werden, sodass mehr Zeit für pädagogische Aufgaben bereitgestellt werden kann.
Zahlen, Daten, Fakten: Gemeinschaftsschule im Überblick
Mit dem Schuljahr 2012/2013 starteten die ersten 41 Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg. Inzwischen gibt es mehr als 300 öffentliche und private Gemeinschaftsschulen. Im Kreis Heidenheim gibt es vier: in Dischingen, Herbrechtingen, Giengen und in Heidenheim.
Die Gemeinschaftsschule ermöglicht längeres, gemeinsames Lernen. Sprich, es findet erst frühestens in Klasse 8 eine Differenzierung nach anvisierten Abschlüssen statt. Bis dahin arbeiten die Kinder in einem ihnen entsprechenden Leistungslevel auf Hauptschul-, Realschul- oder Gymnasialniveau in einem gemeinsamen Klassenverbund. Lernen in Kleingruppen und individuelles Lernen sind wichtige Bestandteile. Die Kinder arbeiten nach der Entscheidungsfindung im Jahr vor der Abschlussklasse getrennt nach anvisiertem Abschluss.
Die Gemeinschaftsschule will „die besten Voraussetzungen schaffen, um den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen konsequent von ihrer sozialen Herkunft zu entkoppeln“, heißt es seitens der Landesregierung. Für die Gemeinschaftsschulen gelten die Bildungspläne der allgemeinbildenden Schulen. So legen die Schüler auch dieselben Abschlussprüfungen ab.
Die Schüler können nach Klasse 9 oder 10 den Hauptschulabschluss machen, nach Klasse 10 mit dem Realschulabschluss die Schule verlassen oder an ein allgemeinbildendes oder berufliches Gymnasium wechseln, um das Abitur zu absolvieren. An einzelnen Gemeinschaftsschulen im Land sind auch gymnasiale Oberstufen eingerichtet.
Gemeinschaftsschulen arbeiten als Ganztagesschulen. Der Klassenteiler liegt bei 28 Schülern. An der Gemeinschaftsschule unterrichten Lehrer aller Schularten. Ausnahme sind gymnasiale Oberstufen. Hier sind Gymnasiallehrer eingesetzt.