Die kaputte Glocke von Heldenfingen bimmelt am längsten
In Heldenfingen erklingt die älteste Kirchenglocke überhaupt im Landkreis Heidenheim. Wie alt genau das gute Stück ist, weiß leider niemand, da das Jahr des Gusses nicht überliefert ist. Aber 700 Jahre hat die Glocke inzwischen auf dem Buckel, da sich die Sachverständigen auf „Anfang 14. Jahrhundert“ als Geburtsdatum geeinigt haben. Und interessant ist es in diesem Zusammenhang schon, dass die drei ältesten noch erhaltenen Kirchenglocken nur ganz wenige Kilometer voneinander entfernt in Heldenfingen, Gerstetten und Gussenstadt läuten. Denkmalschutz ist auf den Höhen der Alb offenbar sicherer gegeben als anderswo.
Auch der Name des Gießers der Glocke ist leider nicht bekannt, die älteste im Kreis birgt also Geheimnisse. Sogar noch ein weiteres, denn man weiß auch nicht genau, ob sie, wenn man so will, von Geburt an an einem Gussfehler litt, dem zum Trotz sie ihr biblisches Alter erreicht hat. Oder ist die Heldenfinger Glocke gar der Beweis dafür, dass gerade angeschlagene Gegenstände länger halten? Sei dem, wie ihm wolle. Sicher ist auch hier nur, dass man bei der Glocke, als sie 1998/99 restauriert wurde, eine Art Mörtel feststellte, mit dem wohl die Bronze der Haube zusammengehalten wurde. Pfarrer Rolf Wachter, der unsere beiden Glöckner zusammen mit Mesnerin Karin Lederer über die zum Teil sehr, sehr alten Holzstufen in die Glockenstube führt, weiß dies allerdings auch nur vom Hörensagen. Die Glocke scheint ihre Geheimnisse gut zu hüten.
Und sie hängt mit ihren 143 Kilogramm als kleinste und einzige der vier Heldenfinger Glocken an einem Holzjoch. Das wurde ihr nach der eben erwähnten Restaurierung spendiert, woran man erkennen kann, dass man sich ihres besonderes Wertes inzwischen doch bewusst geworden war. Denn es ist anzunehmen, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt an ebensolchen gekröpften, verkröpften oder aufgestelzten Stahljochen hing wie ihre Schwestern dies nach wie vor tun.
So präsentiert die Heldenfinger Glockenstube auf einen Blick das modisch oder weltanschaulich bedingte Durcheinander, das die Zeiten auch an solch eigentlich abgelegenen Orten anzurichten imstande waren. Denn wo früher selbstverständlich alle Glocken an hölzernen Jochen und in Glockenstühlen aus Holz hingen, so setzte man insbesondere in der Mitte des 20. Jahrhunderts plötzlich auch hier auf den Baustoff Stahl. Getreu dem Motto, dass der Fortschritt, selbst wenn er nicht funktioniert, unaufhaltsam ist. Inzwischen weiß man es wenigstens in Glockenstühlen besser und ist hier Holz wieder die nicht zu übergehende erste Wahl.
In Heldenfingen allerdings sehen wir, wie bereits erwähnt, nach wie vor einen Glockenstuhl aus Stahl, in dem zwar die kleinste und älteste Glocke an einem relativ neuen Holzjoch, die anderen aber an Stahljochen hängen. Und zwar an sogenannten verkröpften Stahljochen, eine dem Glockenklang nicht unbedingt zuträglich Spezialität, die an dieser Stelle eine Abschweifung wert sein sollte.
Ist man nämlich zur Ansicht gelangt, dass der Glockenstuhl oder der Kirchturm an sich zu großen Belastungen durch das Glockengeläut – etwa, weil die Glocken fürs ganze Ensemble zu schwer gewählt wurden –, ausgesetzt sind, kann es notwendig sein, Glocken an ein gekröpftes (auch der Terminus gestelztes ist ein gängiger) Joch zu hängen. Dieses Joch ist nicht gerade, sondern eher wie ein eckig ausgeführt umgekehrtes U gestaltet, zwischen dessen Schultern, gleichsam mit eingezogenem Kopf, die Glocke hängt. Der Schwerpunkt wird, etwas verkürzt formuliert, somit nach oben verlagert, der Klang allerdings verliert im Vergleich zur optimalen Aufhängung an einem geraden Joch an Lebendigkeit, da die Glocke je nach Stärke der Kröpfung nicht mehr in ihrer vollen Länge schwingt, sondern eher schaukelt.
Auch der Klöppel verhält sich bei einer solchen Aufhängung anders, was man in Heldenfingen zu kompensieren versucht hat. Ein Umstand, den unsere staunenden Glockentester zu würdigen allerdings erst nach Rücksprache in der Lage sind. Jedenfalls stehen sie beim Anblick der an ihrem unteren Ende nicht runden, sondern eher brikettförmigen Heldenfinger Klöppel zunächst einmal vor einem Rätsel.
Dessen Lösung hält per Ferndiagnose Dr. Hans Schnieders, der Glockensachverständige der Diözese Rottenburg-Stuttgart parat. Bei den Klöppeln der drei neuen, 1951 von der von 1846 bis 1955 bestehenden Firma Wolfart in Lauingen gegossenen Heldenfinger Glocken handelt es sich um sogenannte Reversionsklöppel, die gelegentlich Verwendung finden, um die mit einer verkröpften Aufhängung – nur die älteste Glocke hängt inzwischen ja wieder an einem geraden Holzjoch und verfügt insofern dementsprechend auch über einen „normalen“ Klöppel – von Glocken einhergehenden klanglichen Nachteile wenigstens teilweise auszugleichen. Wobei man hier allerdings offenbar den Nachteil in Kauf nimmt, dass die Anschlagsflächen der Glocken stärker als sonst beansprucht werden können. Womöglich wird man sich ja in Heldenfingen eines nicht fernen Tages daranmachen, rund um die schon privilegierte älteste Glocke des Landkreises alles in Holz und gerade aufgehängt zu gestalten.
Bis dahin bleiben die drei Reversionsklöppel immerhin eine in der Tat keineswegs nur im Kreis, sondern auch weit darüber hinaus nicht oft anzutreffende Besonderheit. Was wiederum zum Ort an sich passt, in dem sie Dienst tun. Denn auch der Turm der Heldenfinger Heilig-Kreuz-Kirche ist mit seinem viereckigen Zeltdach ein Exot in der Gegend. Und er ist der Beweis dafür, dass die sogenannte Mode nicht nur bestimmt, ob Röcke kurz oder lang oder ob Hosen am Mann oder an den Kniekehlen getragen werden, sondern auch, wie das Dach eines Kirchturms auszusehen hat. Jedenfalls kann sich Pfarrer Rolf Wachter die Heldenfinger Dachform nur dadurch erklären, dass, als die Kirche im Jahr 1828 umgebaut und vergrößert wurde, Zwiebeltürme out waren und man vor Ort mit dem architektonischen Zeitgeist gehen wollte. Selbst wenn ein runder Turm in Anbetracht der windigen Albhöhe vielleicht zweckmäßiger gewesen wäre.
Immerhin, und dies kann man den Heldenfingern nicht hoch genug anrechnen, setzten sie, als es nach dem Zweiten Weltkrieg um die Kirchenglocken ging, nicht ausschließlich aufs Neue und bauten ihr Geläut rund um die alte, die Namen der Evangelisten LVCAS, IOHANNES, MARCVS und MATHEVS in der Schulterinschrift tragende Taufglocke von Anfang des 14. Jahrhunderts.