In Gerstetten verschwinden Glocken schon mal spurlos
Unsere Glöckner sind heute in Gerstetten, wo man sich auf eine gewisse Weise wie am Rand der Karibik fühlen kann. Was wiederum daran liegt, dass Gerstetten das Zeug dazu hat, als eine Art schwäbisches Bermudadreieck durchzugehen. Wenn es um Glocken geht. Beim Bermudadreieck, auch Teufelsdreieck genannt, handelt es sich ja bekanntlich um ein im westlichen Atlantik zwischen den Eckpunkten Florida, Bermuda und Puerto Rico gelegenes Seegebiet, von dem es heißt, dass dort, warum auch immer, überdurchschnittlich viele Schiffe und Flugzeuge verschwanden und verschwinden. Ob die Gegend zu Recht verrufen ist, ist selbstverständlich strittig. Womit wir wieder in Gerstetten wären. Zöge man hier die Linien eines Dreiecks mit den Eckpunkten Nikolauskirche, Michaelskirche und, sagen wir mal, Bahnhof, dann hätten wir damit die Grenzen des besagten schwäbischen Bermudadreiecks gezogen, in dem tatsächlich zwei Glocken auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Wohin auch immer. Wir werden darauf zurückkommen.
Aber Vorfahrt genießen selbstverständlich die Glocken, die noch da sind. Das sind auf dem Turm der Michaelskirche insgesamt vier, wovon immerhin die Hälfte historische Exemplare sind und eine davon die zweitälteste aller Kirchenglocken im Landkreis Heidenheim überhaupt ist. Sie stammt aus dem 14. Jahrhundert, hat einen Durchmesser von 82 Zentimetern, wiegt 328 Kilo und wurde von einem unbekannten Meister gegossen. Auch das Jahr des Gusses ist nicht bekannt. Dafür ist die Inschrift nahezu unverwechselbar. Diese verewigt die Namen der Evangelisten Lucas, Iohannes. Marcus und Matheus, wobei die C und E in sehr eigentümlicher Form erscheinen, H, L, R und S seitenverkehrt – und das A in Lucas auf dem Kopf steht.
Als die zweite der historischen Glocken der Michaelskirche gegossen wurde, kehrte Christoph Kolumbus gerade von seiner zweiten Entdeckungsreise nach Amerika zurück. Man schrieb das Jahr 1496. Auch auf dieser Glocke fehlt der Name des Gießers, aber die Arbeit ist so typisch, dass sie einem Meister zugeordnet werden kann. Und wen treffen wir bei dieser Angelegenheit also im Geiste wieder? Jerg Kastner. Nicht geklärt werden kann lediglich, ob der Vater oder der Sohn die Glocke gegossen hat. Denn im Jahr 1496 lebte der Senior noch und hatte sich der Junior noch nicht als Gießer in Ulm niedergelassen, wohin er mit Frau und Kindern 1509 zog und 1518, wie wir bereits erfahren haben, die Herrenglocke für Dettingen goss. Sicher dürfte somit sein: Von welchem der Kastner letztendlich auch immer: Gegossen worden ist die Gerstetter Glocke in Giengen.
Vier neue Holzjoche
Das ist auch für Pfarrer Michael Maisenbacher neu, der Manfred Kubiak und Arthur Penk zusammen mit der Mesnerin Barbara Flath in den stählernen Glockenstuhl begleitet, der aus den 1950er-Jahren stammt. Im Jahr 2005, als die historischen Glocken zur Generalsanierung nach Nördlingen in die Schweißwerkstatt Lachenmeyer gingen, spendierte man allen Glocken immerhin neue Holzjoche, was, wie die Gastgeber unseren Glockentestern versichern, den Klanggenuss deutlich erhöht hat.
Auf dem Weg nach oben kommt die Expedition auch an der im Kirchturm aufbewahrten Kriegsglocke von 1942 vorbei, eine von einem Gerstetter Handwerker seinerzeit umfunktionierten Sauerstoffflasche, die vermutlich mit einem großen Vorschlaghammer angeschlagen wurde und als einzige Glocke in Gerstetten Dienst tat, bis die im Krieg abgegebenen und unversehrt gebliebenen beiden historischen Glocken 1948 wieder ins Dorf zurückkehrten.
Seit 1954 ist das Geläut der Michaelskirche mit vier Glocken komplett. Zu den beiden alten gesellten sich zwei von der Gießerei Kurtz in Stuttgart gegossene neue. Erklingen sie zusammen, so bilden ihre Schlagtöne
es,
g,
b,
und e
den Beginn des Chorals „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ ab, wobei die beiden historischen Glocken von der Größe her mit 328 beziehungsweise 780 Kilogramm zwischen den beiden neuen (288 beziehungsweise 1421 Kilo) angesiedelt sind. Vier Glocken also. Wobei der Turm, wie Michael Maisenbacher erklärt, für fünf, sogar sechs Glocken dimensioniert ist.
Das Stichwort 1954 ist bereits gefallen. In jenem Jahr erhielt ebenso die Nikolauskirche, in Gerstetten auch als Untere Kirche ein Begriff, drei neue Glocken, da zwei der drei alten, die 1942 abgegeben wurden, nie wieder aufgetaucht waren. Aus dem Krieg zurück kam einzig diejenige, die im Jahr 1616 von dem in seiner Zeit berühmten, aus Marburg an der Lahn stammenden, ab 1608 in Ulm wirkenden Hans Braun gegossen worden war. Da der Kirchengemeinderat nun allerdings ein neues Geläut für die Nikolauskirche anschaffen wollte und die einzig noch verbliebene Glocke vom Schlagton her nicht zur Disposition des bei Kurtz in Stuttgart bestellten Dreiergeläuts (das 1960 um eine vierte, die nun größte Glocke erweitert wurde) passte, wurde ein fataler Beschluss gefasst: Man schenkte in völliger Verkennung ihres historischen Wertes die Glocke ans Gustav-Adolf-Werk.
Seither, und nun sind wir endlich im schwäbischen Bermudadreieck angelangt, ist die Glocke verschollen. Alle Nachforschungen blieben vergebliche Liebesmüh. Man hörte zwar Gerüchte, erzählt Barbara Flath, die Glocke aus Gerstetten sei von dem die evangelische Diaspora unterstützenden Werk weiter nach Kamerun verschenkt worden, dort aber nie angekommen. Genaues jedoch weiß man bis heute nicht.
Ein weiteres Verschwinden
Und die Braun-Glocke, das hatten wir eingangs reißerisch versprochen, ist nicht die einzige in und aus Gerstetten verschwundene Glocke. Denn da wäre noch die uns vom in Personalunion Giengener und Heidenheimer Stadtarchivar Dr. Alexander Usler erzählte Geschichte mit der Glocke vom Giengener Spitaltorturm. Nachdem dieser auf ein königliches Dekret vom 24. Mai 1816 abgebrochen worden war, war die zugehörige Glocke (samt Uhr) nach Gerstetten verkauft worden. Wo sie geblieben ist? Wir sagen noch einmal nur: Bermudadreieck.
Noch gruseliger ist allerdings der Grund dafür, warum im Winter die Glocken der Michaelskirche auch um 20 Uhr noch einmal geläutet werden. Es hängt mit der traurigen Geschichte eines nächtlichen Wanderers zusammen, der einst in Nebel und Schnee nicht mehr nach Hause fand und am nächsten Morgen tot auf den Feldern vor dem Dorf gefunden wurde. Hätte man bloß noch einmal auch später die Glocken läuten lassen, hätte der Mann nicht die Orientierung verloren und wäre das Unglück vielleicht nicht passiert, sagte man damals. Und läutet seither auch noch einmal um acht. Bis heute.