Neurologisches Phänomen

Maike Preißing aus Gerstetten kann Musik sehen – sie hat Synästhesie

Maike Preißing aus Gerstetten nimmt die Welt anders wahr als die meisten Menschen. Sie hat Synästhesie. Berührungen, Musik und Worte spürt, hört und liest sie nicht nur – sie sieht sie auch in Farben und macht daraus Kunst.

Ein Schnarchgeräusch ist orange, ein Handschlag blau und der Buchstabe S ist rosa. Das klingt erst mal verrückt, ist es aber nicht. Maike Preißing hat Synästhesie. Und das ist keine Krankheit, sondern ein neurologisches Phänomen, das bei rund vier Prozent aller Menschen auftritt. Der Begriff bedeutet so viel wie „mitempfinden oder zugleich wahrnehmen“. Sinneswahrnehmungen, die normalerweise getrennt voneinander auftreten, sind bei diesem Phänomen aneinandergekoppelt. Ein bestimmter Reiz spricht nicht nur den Sinn an, der für ihn zuständig ist, sondern (mindestens) einen weiteren. Töne und Geräusche haben bestimmte Farben, andere Menschen sehen eine Farbe und haben gleichzeitig einen bestimmten Geschmack im Mund. Diese Wahrnehmungskombination erfolgt automatisch und kann nicht unterdrückt werden.

Dass für Maike Preißing alle Buchstaben, Zahlen und Wörter eine Farbe oder einen Farbcode haben, nennt man Graphem-Farb-Synästhesie. Aufgefallen ist ihr das, als sie in der Grundschule Schreiben und Lesen gelernt hat. „Zu meiner Mama habe ich damals Dinge sagt, wie: ‚Das K ist grün‘ oder ich habe ihr gesagt, dass ich bestimmte Namen oder Wörter nicht mag, weil sie keine schöne Farbe haben. Ich dachte, alle Menschen nehmen ihre Umwelt so wahr“, erinnert sich Preißing. Und weil sie eine empathische und neugierige Mama hat, habe diese versucht, mehr über die Wahrnehmung ihrer Tochter herauszufinden.

Wenn Maike Preißing etwas hört oder fühlt, sieht sie immer gleichzeitig Farben oder dynamische Farbformen vor ihrem inneren Auge. So sehen für sie Regelschmerzen aus. Foto: Maike Preißing

Das war allerdings gar nicht so einfach. Eine Recherche bei Dr. Google war Anfang der 2000er-Jahre noch nicht so ergiebig wie heute. Lehrer und Schulleiter reagierten auf die Beobachtungen der Mutter eher abschätzig. Sie schoben es auf eine blühende Fantasie und meinten, es würde sich schon auswachsen. Das tat es allerdings nicht und die Mutter von Maike Preißing wollte die Sachen nicht auf sich beruhen lassen. Irgendwann fand sie heraus, dass noch mehr Familienmitglieder Töne sehen können. Und noch etwas später hatte das Phänomen dann auch einen Namen.

Synästhesie ist aber nicht gleich Synästhesie. Insgesamt gibt es mindestens 75 verschiedene Arten. Maike Preißing hat ungefähr zehn davon. Erst mit Anfang 20 hat sie gemerkt, dass sie Worte, die während eines Gesprächs benutzt werden, vor ihrem inneren Auge automatisch ausgeschrieben sieht, wie Untertitel. Mediziner nennen das Ticker-Tape-Synästhesie.

Manche Menschen können Töne schmecken

Aber ist das nicht störend bzw. auch verstörend? Natürlich könne es auslaugen, wenn ein Reiz im Gehirn permanente weitere Reize auslöse, aber: „Ich kann es mittlerweile genießen und würde die Synästhesie niemals eintauschen wollen. Mich belastet es nicht, weil ich auch Wege gefunden habe, damit umzugehen“, sagt Maike Preißing. Natürlich gebe es die Tendenz zur Reizüberflutung, aber sie gehe nicht aus dem Haus ohne Kopfhörer, die andere Geräusche ausblenden, oder ihre Sonnenbrille. „Aber wenn Menschen Töne und Stimmen zum Beispiel auch noch schmecken, kann das größere Auswirkungen auf das Leben haben.“ Eine andere Form, die sehr belastend sein kann, ist „Mirror Pain“, das heißt Menschen fühlen Schmerzen von anderen, als wären es ihre eigenen.

Maike Preißing hat Psychologie studiert, während des Studiums aber nie etwas über Synästhesie gehört. Auch deshalb klärt die 29-Jährige heute mitunter in sozialen Medien und in ihrem Podcast „Let’s talk Synaesthesia“ über das Thema auf. Sie arbeitet als Neurodiversitätscoach, hält Vorträge und gibt Seminare zum Thema. Erstens um über das Thema im Allgemeinen aufzuklären und auch Betroffenen konkrete Wege aufzuzeigen, wie sie mit ihrer Synästhesie umgehen und auch ihre eigenen Grenzen kennenlernen können.

Inneres Auge: Maike Preißing verwandelt, was sie sieht, in Kunst

Außerdem ist Maike Preißing Künstlerin. Sie verwandelt das, was sie vor ihrem inneren Auge sieht, in Bilder. „Wenn ich mir den Fuß gestoßen habe und denke: ‚Oh, das Gefühl sah aber gut aus‘, dann merke ich mir, wie der Schmerz oder ein Geräusch ausgesehen hat, setze mich später an den Laptop und reproduziere es. Es ist toll, wenn man eine Kunstinspiration hat, sobald man die Augen schließt.“ Laut Untersuchungen gibt es unter Synästhetikern gehäuft besonders kreative Menschen, dazu zählen etwa der Maler Wassily Kandinsky, Chris Martin von Coldplay oder Lady Gaga. Und nicht nur das Kreativitätslevel, auch die Gedächtnisleistung liegt bei Synästhetikern oft höher als im Schnitt.

Synästhesie: im MRT deutlich erkennbar

Dass das alles nicht nur Einbildung ist, kann man übrigens deutlich im Magnetresonanztomografen (MRT) erkennen. Die Untersuchung in der Röhre zeigt deutlich, wie zwei unterschiedliche Gehirnregionen – beispielsweise das Hörzentrum und die Region für Geschmack – bei Synästhetikern zeitgleich aktiviert werden. Warum das so ist, ist noch nicht abschließend geklärt. „Man weiß, dass Synästhesie vererbt wird, welche Gene dafür zuständig sind, weiß man allerdings noch nicht“, sagt Maike Preißing. „Das Gehirn ist einfach wahnsinnig kompliziert.“

Synästhesie: anders wahrnehmen

Mediziner schätzen, dass Synästhesie zwischen vier und fünf Prozent der Bevölkerung betrifft. Die Zahlen können jedoch deutlich höher sein, weil sich vor allem Menschen mit leichter Synästhesie nicht darüber im Klaren sind, dass sie die Welt anders als die meisten Menschen wahrnehmen.

Synästhesie ist keine Krankheit und auch keine psychische oder neurologische Störung. Es ist eine spezielle Variante der Wahrnehmung, bei der verschiedene Gehirnareale miteinander in Verbindung stehen. Das Wort ist abgeleitet von den altgriechischen Wörtern syn (zusammen) und aisthesis (Empfinden). Synästhesie bedeutet also übersetzt die Miterregung eines primär nicht beteiligten Gehirnareals. Weitere Infos gibt es auch auf synaesthesie.org/de

Jetzt einfach weiterlesen
Jetzt einfach weiterlesen mit HZ
- Alle HZ+ Artikel lesen und hören
- Exklusive Bilder und Videos aus der Region
- Volle Flexibilität: monatlich kündbar