An die älteste Glocke der Stadtkirche Giengen kommt keiner ran
Aller Anfang ist schwer. Und Grünschnäbeln in Sachen Glocken kann es schon mal passieren, dass sie sich, wo zwei Türme zur Auswahl stehen, glatt für den falschen entscheiden. Zu ihrer Ehrenrettung muss allerdings gesagt werden, dass es in der Tat reichlich ungewöhnlich ist, wenn eine Kirchenglocke nicht im Glockenturm zu finden ist. In der Giengener Stadtkirche jedoch ist dies der Fall. Zumindest was die Glocke anbelangt, hinter der Manfred Kubiak und Arthur Penk her sind.
„Nicolaus Martinus von Campen gos mich“
Diese wurde im Jahr 1625 in Stuttgart gegossen und sollte eigentlich weder in Giengen im „falschen“ Turm noch überhaupt in Giengen hängen. Denn gefertigt wurde sie für Nordheim bei Heilbronn. „Nicolaus Martinus von Campen gos mich“ ist unter anderem auf ihr in einer freien und individuellen Art von Rechtschreibung zu lesen, die sich seit der sogenannten Rechtschreibreform anno 2002 ja auch bei uns wieder durchgesetzt hat. Warum die Glocke nicht mehr in Nordheim hängt, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Wie und zu welchem Zweck sie indes nach Giengen gelangte, scheint zumindest eindeutig und hat etwas mit ihrem Gewicht zu tun, das im übrigen niemand kennt.
Dafür ist ihr Durchmesser bekannt, der am untersten Rand, bei einer Glocke Schärfe genannt, 60 Zentimeter beträgt. Bei einer Glocke mit diesem Maß darf man nun wiederum von einem Gewicht von annähernd 150 Kilogramm ausgehen, was dann jenen drei Zentnern entsprechen würde, die laut Rechnung eine Glocke wog, die die Stadt Giengen im Jahr 1646, also zwei Jahre vor Ende des Dreißigjährigen Krieges, beim Kaufmann Heylbronner im Ulm erwarb, um sie als neue Sturmglocke in die Laterne des auf staufischem Sockel ruhenden, 1572 errichteten Renaissance-Bläserturms der Stadtkirche zu hängen, der beim Stadtbrand 1634 samt der alten Sturmglocke stark beschädigt worden war. Der wohl endgültige Beweis für oder gegen die bislang akzeptierte Geschichte dieser Glocke könnte also auf einer robusten Personenwaage geführt werden.
Die Glocke ist im Grunde unerreichbar eingebaut
Warum die Glocke aber noch nie gewogen wurde, wird klar, sobald man versucht, sich ihr zu nähern. Dies tun unsere beiden Glockentester, nachdem sie im benachbarten Glockenturm der Stadtkirche unter Anleitung von Pfarrer Dr. Joachim Kummer und Stadtchronist Ulrich Stark einen Blick in den Glockenstuhl und das dort seit 1950 diensttuende Geläut geworfen haben. Der Glockenstuhl übrigens, diese kleine Abschweifung sei erlaubt, ist das Tragwerk für die frei schwingenden Glocken einer Kirche und muss die beim Schwingen der Glocken auftretenden Kräfte aufnehmen und an das umgebende Gebäude weiterleiten.
Dies funktioniert in Giengen seit 1710 problemlos, sonst hätten sich nicht nur längst Schäden am Glockenturm feststellen lassen, sondern würden sich auch Generationen von Wanderfalken, die hier traditionell brüten, nicht so sicher und wohl gefühlt haben. Und dass der ursprünglich gotische alte Glockenturm vor drei Jahrhunderten durch einen barocken Neubau ersetzt werden musste, hatte ebenfalls nichts mit unkontrollierten Schwingungen, sondern mal wieder mit dem kriegsbedingten Stadtbrand von 1634 zu tun. Den der Bläserturm der Kirche, wie schon erwähnt, nicht unrettbar beschädigt überstanden hatte.
Hier nun nähert sich unsere Glockenexpedition zunächst unaufhaltsam ihrem Ziel, wobei sie – nachdem sie der Türmerstube einen Besuch abgestattet und auf dem in 40 Metern Höhe gelegenen Umgang einen windumtosten Blick auf Giengen und Umgebung genossen hat –, am Ende feststellen muss, dass dieser Glocke nicht beizukommen ist. Denn zwei enge Stockwerke oberhalb der Türmerstube endet der Aufstieg vor einer mit Stahldraht und Holz gesicherten Luke, die jede weitere Annäherung unmöglich macht. Ein Umstand, der wahrscheinlich auch der Grund dafür sein dürfte, dass die Glocke überhaupt noch in Giengen hängt. Weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg jedenfalls wurde auch nur der Versuch unternommen, sie zum Einschmelzen für Rüstungszwecke aus dem Turm zu holen.
Das Rätsel um die Glocke wird wohl niemals gelöst
Stattdessen kann man die bald 400 Jahre alte Glocke, zum Beispiel von der Schranne aus, auch ohne Fernglas immer noch halbwegs hoch oben auf dem Blasturm sehen. Zu entziffern, was sich, außer dem Hinweis auf den Gießer, an Inschriften noch auf ihr finden lässt, ist von hier unten aus nichts. Dies jedoch ist zum Glück überliefert. Eine Reihe von Namen zum Beispiel findet sich dort, und zwar die des Pfarrers, des Bürgermeisters und vermutlich die der Räte des Dorfes Nordheim in jenem Jahr 1625, in dem die Glocke gegossen wurde. Von einem Hans Nerdtlinger zum Beispiel ist da die Rede. Und es wurde deshalb auch schon gemutmaßt, dass möglicherweise verwandtschaftliche Beziehungen die Glocke von Nordheim nach Giengen gebracht haben könnten, da in jenen Tagen Stadtschreiber Giengens der ursprünglich aus Bietigheim stammende, just im Jahr 1646 verstorbene Simon Nördlinger gewesen war.
Bis in den letzten Winkel wird sich wohl nie klären lassen, wie auch immer die Glocke, von der unseren Glöcknern auch niemand sagen konnte, wann sie zuletzt zu hören war (immerhin müsste sie mit einem Seil geläutet werden, das aber ebenso fehlt wie ein Klöppel), letztendlich nach Giengen gekommen sein mag. Eines jedoch darf man in diesem Zusammenhang mutmaßen: Hätten die Giengener hundert Jahre früher eine neue Glocke gebraucht, hätte sie weder aus der Ferne, noch aus der Nachbarschaft beschafft werden müssen. Sie wäre ganz einfach vor Ort gegossen worden. Und zwar von einem gewissen Ierg oder Jerg oder Jörg Kastner. Der hatte sich, ursprünglich aus Lauingen stammend, nach einem kurzen Aufenthalt in Nördlingen im Jahr 1471 in Giengen als Glockengießer niedergelassen. Einer seiner Söhne wirkte ab 1509 in Ulm. Von den Kastners wird im Laufe dieser Serie noch mehrere Male die Rede sein.