"Im Strafrecht geht es nicht um Wahrscheinlichkeiten, es geht um Tatsachen", sagte Richter Rainer Feil nach der Urteilsverkündung. Angeklagt war ein 52-jähriger Mann, der eine 22-Jährige im Juni 2023 gegen ihren Willen unsittlich berührt und geküsst haben soll. Das Schöffengericht sprach den Angeklagten dennoch frei, obwohl Richter Rainer Feil die Gefühlslage der Geschädigten mehrmals hervorhob und nachvollziehen konnte.
Sie waren flüchtige Bekannte
Am 10. Juni 2023 kam es auf dem Balkon der Geschädigten in einem Giengener Teilort zu dem Übergriff. Laut ihren Schilderungen habe sie den Angeklagten zum Geburtstag ihrer Tochter einen Tag zuvor eingeladen, zu diesem erschien er jedoch nicht. Die Frau hatte den Mann vorher nur flüchtig im Bus kennengelernt. "Er ist auch Italiener, deshalb konnte man sich gut unterhalten", sagte die 22-Jährige vor Gericht. Am Tattag kam der Angeklagte dann laut ihr unangekündigt bei der alleinerziehenden Mutter vorbei und lud sich selbst ein, den Geburtstag der zweijährigen Tochter nachzufeiern. Laut dem Angeklagten wurde er von ihr eingeladen, auch an diesem Tag.
Nachdem die Beiden sich begrüßten und auf dem Balkon der Dachgeschosswohnung zusammen einen Sekt und einen Kaffee tranken, umarmten sich die junge Mutter und der verheiratete Angeklagte. Nach gewisser Zeit fing der Angeklagte an, die 22-jährige Gastgeberin am Hals zu küssen. "Ich wollte ihm sagen, dass ich das nicht möchte, aber ich konnte nicht, weil ich Angst hatte, dass noch Schlimmeres passiert", sagte sie. Da er nicht zurückgewiesen worden war, küsste der 52-Jährige sie nach gewisser Zeit nochmal und versuchte ihre Hand auf seinen Intimbereich zu drücken. Dies erfolgte laut beiden ohne Gegenwehr, obwohl es gegen ihren Willen ablief. Weder verbal noch physisch wurde der Übergriff von ihr verhindert.
Sie suchte nicht nach Hilfe
Nach Angaben von beiden sei die Geschädigte während des Besuchs immer wieder vom Balkon in die Wohnung gegangen. Laut der 22-Jährigen war dies ein Versuch, die Situation zu entschärfen, da ihr die Begegnung zu diesem Zeitpunkt unangenehm war und sie unter Schock stand. Einer Freundin, zu der sie über ihr Handy während dem Tattag Kontakt hatte, schilderte sie zwar den Übergriff, um Hilfe bat sie aber nicht, da die Freundin in Italien lebte. Bei einem Videoanruf ihres damaligen Lebensgefährten während des Übergriffes, erwähnte sie die Situation nicht einmal. "Ich stand unter Schock und im Fernsehen sieht man immer wieder so schlimme Dinge. Ich wusste ja nicht, wozu er noch fähig ist", sagte die 22-Jährige dem Richter.
Nach einiger Zeit setzte sich die Geschädigte wieder zu ihm, um das Gespräch fortzusetzen, als es wieder zu einem Übergriff kam. Diesmal versuchte der Angeklagte sie unter ihrem Kleid zu berühren, was ihm auch gelang. Als die Frau nach kurzer Zeit zurückzuckte, wich er zurück und ließ von ihr ab. Nach 20 Minuten weiterer Gespräche verließ er die Wohnung der Geschädigten. Laut ihm hat er sich bereits bei der Verabschiedung entschuldigt, was die Geschädigte allerdings bestritt. Sie betonte mehrmals: "Er hätte an meinem Gesichtsausdruck merken müssen, dass ich das nicht möchte" und: "Wenn ich nicht zurückküsse, dann heißt das, dass ich ihn nicht möchte". Nach der Tat meldete sie den Übergriff umgehend bei der Polizei.
Er hätte es an meinem Gesichtsausdruck merken müssen.
Geschädigte
Während der Zeugenvernehmung konnte die 22-jährige Geschädigte sich an die meisten Einzelheiten des Tattags nicht erinnern. "Es ist schon sieben Monate her", antwortete sie mehrmals auf Fragen nach Details von Staatsanwältin Alexandra Henning. Auf die Frage hin, ob die Geschädigte sich sicher sei, ob sie den Angeklagten beim zweiten Annäherungsversuch weggestoßen habe, sagt diese, sie wäre sich zu 98 Prozent sicher.
Weitere Zeugen wurden entlassen
Nach der Vernehmung der Geschädigten, waren sich Staatsanwältin Henning, Richter Rainer Feil und Verteidiger Markus Kiesel übereinstimmend sicher, dass alle anderen geladenen Zeugen nicht mehr nötig waren. Diese konnten nur den Gefühlsstand der Geschädigten bestätigen, welcher bereits allen Anwesenden klar war. Sowohl Staatsanwältin Henning als auch Verteidiger Kiesel erkannten, dass die Geschädigte zwar angegangen wurde und der Übergriff ihr emotional nahe ging. Andererseits habe sie dem Angeklagten nicht eindeutig klargemacht, dass er eine Grenze überschritten habe. Deswegen plädierten beide Parteien auf Freispruch.
Angaben wie 'er hätte merken sollen' zählen nicht vor dem Strafrecht.
Rainer Feil, Richter
Nach der Urteilsverkündung machte Richter Rainer Feil nochmals klar, dass allen Anwesenden der Schock und die Betroffenheit der 22-jährigen Geschädigten klar wurde und sowohl er als auch die Schöffen die junge Mutter verstehen konnten. "Angaben wie 'er hätte merken sollen' zählen aber nicht vor dem Strafrecht", ergänzte Richter Feil, weshalb der Mann freigesprochen wurde. "Der Angeklagte hat zu keinem Zeitpunkt versucht, einen möglichen Hilferuf von der Geschädigten zu unterbinden, hat ihr nicht den Umgang mit ihrem Handy verboten und hat keine Außenkontakte unterbunden", sagte Richter Feil ebenfalls. Der Angeklagte habe den Widerwillen der Geschädigten nicht erkannt. Trotzdem legte Feil dem Mann nahe, in Zukunft zweimal zu überlegen, wie er auf Frauen zugehe.
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