Elektrisch betriebene Zugmaschinen ohne Fahrer, die Lkw-Anhänger autonom auf dem Betriebshof eines Logistikunternehmens rangieren und zentimetergenau ans Ladetor schieben – das ist noch eine ganze Weile Zukunftsmusik, aber die ersten Schritte sind getan. Das gilt als so innovativ, dass am Donnerstag sogar der baden-württembergische Innenminister und stellvertretende Ministerpräsident Thomas Strobl (CDU) ins Giengener BSH-Werk reiste.
Wie komplex die Aufgabe ist, tonnenschwere Fahrzeuge wie von Geisterhand zu bewegen, verdeutlichten zahlreiche Beteiligte am Projekt „Yard Management HDH“: Es braucht spezielle Fahrzeuge und passgenaue Hard- und Software für den „ferngesteuerten“ Betrieb, es braucht intelligente Sensorik, die nicht nur die Bewegungen erkennt und bewertet, sondern beispielsweise auch verlässlich Alarm schlägt, wenn sich Personen auf der Fahrbahn aufhalten. Damit alle Daten praktisch in Echtzeit übertragen werden können, braucht es ein leistungsfähiges 5G-Mobilfunknetz. Echtzeit bedeutet in diesem Fall, dass die Verzögerung deutlich kürzer als ein Wimpernschlag ist. Bei BSH wurde dafür eigens ein 5G-Campus-Netz errichtet, das ausschließlich für diesen Zweck dient.
Tausende Container müssen jährlich in Giengen bewegt werden
Das BSH-Areal am Giengener Stadtrand war für dieses Forschungsprojekt womöglich optimal geeignet: Eingezwängt zwischen Bahnlinie und Kreisstraße hat sich das Gelände mit seinen 100.000 Quadratmetern Lagerfläche mittlerweile zum größten BSH-Logistikstandort in Europa gemausert. Seit 2008 hat sich nicht zuletzt die Container-Nutzung rasant entwickelt, der Großteil der Transporte wird per Bahn abgewickelt. Mehr als 100.000 Langstreckentransporte seien so bislang auf die Schiene verlagert worden.
Jährlich müssen auf dem Betriebshof, in der Fachsprache Yard genannt, Tausende Male leere Container aus dem Depot geholt und nach dem Beladen weitertransportiert werden. Außerdem kommen Produkte aus anderen Werken in Giengen an und müssen entladen werden. Angesichts eines grassierenden Fachkräftemangels sollen diese sogenannten Umfuhren künftig zumindest zum Teil automatisiert werden.
Das ist keine Geisterhand, das ist Innovation!
Thomas Strobl, Innenminister
Landespolitiker Strobl wertete „Yard Management HDH“ als Leuchtturmprojekt, nicht nur für Baden-Württemberg, sondern für ganz Deutschland. Dabei lehnte der Minister das Bild, das Rangieren geschehe wie von Geisterhand, rundweg ab: „Das ist keine Geisterhand, das ist Innovation!“, rief er. Das Giengener Pilotprojekt, so Strobl, habe das Potenzial, die Logistik zu revolutionieren.
Der Heidenheimer Landrat Peter Polta hob die enge Zusammenarbeit in dem Forschungskonsortium hervor. Während sich der Wirtschaftsförderer des Landkreises, Michael Setzen, um die Fördermittel bemühte, fanden die Konzernspitze, Software- und Fahrzeugentwickler, aber auch die Heidenheimer DHBW mit ihren Studiengängen Maschinenbau und Wirtschaftsingenieurwesen zusammen, um, wie es am Donnerstag mehrfach hieß, an einer „Blaupause“ zu arbeiten, die später weit in die Branche hinein übertragen werden könnte.
Auf dem Betriebshof konnten die Gäste aus Politik und Wirtschaft mit eigenen Augen sehen, wie weit die Entwicklung gediehen ist. Aktuell wird die batteriebetriebene Zugmaschine noch von einem sogenannten Teleoperator gesteuert, also einem Bediener, der vom BSH-Bürotrakt aus an einem Bildschirm das Fahrzeug steuert. Zahlreiche Kameras und Sensoren sorgen dafür, dass dies sehr präzise geschieht. Vorwärtsfahrten auf dem Hof erfolgen auch bereits automatisch. Mit zunehmendem Grad der Automatisierung soll es möglich werden, dass ein Teleoperator mehrere Fahrzeuge zugleich betreut. Angesichts eines großen Mangels an Fahrerinnen und Fahrern gilt diese Forschung als besonders zukunftsträchtig.
Assistenzsystem soll für mehr Sicherheit sorgen
Im Mittelpunkt der Arbeit stand die Sicherheit. Erarbeitet wurde daher auch ein Assistenzsystem, dass insbesondere beim Rückwärtsfahrten darauf achtet, dass sich niemand im Gefahrenbereich aufhält. Als weitere Motivation für die Forschung nannten die Verantwortlichen, dass durch den Einsatz elektrischer Zugmaschinen ein Beitrag zur Dekarbonisierung geleistet werden könne.
„Es macht mich stolz, dass wir bei einem unserer traditionsreichsten Unternehmen Zeuginnen und Zeugen dieses großen Fortschritts wurden“, sagte Giengens Oberbürgermeister Dieter Henle abschließend. Das Projekt werde dazu beitragen, „Fachkräftemangel zukunftsorientiert zu begegnen“.
Test läuft seit September
Nach umfangreicher Vorarbeit sind die entwickelten Systeme seit vergangenem September in der praktischen Erprobung. Durchschnittlich 23 Fahrten pro Tag wurden seither mit dem Testfahrzeug abgewickelt. Kritische Zwischenfälle gab es nicht.