Die Glocke, die Johann Wolfgang von Goethe in Giengen schon hörte
Spitalkirche: Hier hängt Giengens älteste noch erhaltene Glocke. Sie wurde im Jahr 1573 gegossen, gehört also seit weit über 400 Jahren zur Stadt, weshalb man sich auch vorstellen darf, dass sie nicht nur der berüchtigte Wallenstein, der hier 1630 durchkam, sondern auch der Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe, der 1788 in der „Goldenen Gans“ nächtigte, schon haben läuten hören.
Dies freilich noch von einem anderen Ort aus. Denn die Glocke, die aus der Werkstatt eines unbekannten Gießers stammt, machte sich nicht seit jeher von der Spitalkirche aus bemerkbar. Sie hing bis 1861 auf dem Pfründnerhaus des Spitals zum Heiligen Geist. Als dieses abgebrochen wurde, kam dessen Dachreiter samt Inhalt als Glockenturm auf die Spitalkirche.
Ohne Joch und Klöppel
Spitalkirche und Stadtkirche sind die beiden erhalten gebliebenen von einst acht Kirchen der Freien Reichsstadt Giengen. Die Spitalkirche wird erstmals im Jahr 1425 urkundlich erwähnt und stand seinerzeit auf dem außerhalb der Stadtmauer gelegenen Areal des Spitals zum Heiligen Geist, in dem nicht nur unter anderem Kranke oder, kostenlos, bedürftige Alte gepflegt wurden, sondern in dessen Pfründnerhaus man sich als Bürger auch zur Dauerpflege einkaufen konnte. In der Spitalkirche fand im Jahr 1528 der erste reformatorische Gottesdienst Giengens statt, feierte von 1889 bis 1905 auch die damals neugegründete katholische Gemeinde ihre Gottesdienste und ist seit 1967 die von Augsburg aus betreute griechisch-orthodoxe Gemeinde eingemietet.
Und seit 1861 also gehört auch die 1573 gegossene kleine Glocke zum Ensemble. Sie ist mit nicht einmal 29 Zentimetern Durchmesser und einem Gewicht von schätzungsweise knapp 30 Kilogramm die mit Abstand kleinste jener Glocken, die wir im Verlauf unserer Serie kennenlernen werden. Und sie ist nicht mehr freischwingend, hängt mit ihrer Krone nicht an einem Joch, verfügt auch über keinen Klöppel mehr, sondern ist an einem Holzbalken festgemacht, da sie ausschließlich noch als Schlagglocke verwendet wird, indem sie jede Viertelstunde von einem Hammer an ihrer Außenseite angeschlagen wird.
Als sich unsere Glöckner zusammen mit Pfarrer Dr. Joachim Kummer schließlich über knarzende Treppen und stöhnende Leitern zu der vergleichsweise schmucklos gearbeiteten „Miniatur“ hocharbeiten, klettert, vorbei an einem regelrechten Taubenfriedhof, auch die Sorge mit, ob der seinerzeit ohne viel Federlesens einfach auf die Kirche versetzte, sichtbar und spürbar schiefstehende Dachreiter den Angriff auf seinen Gipfel überhaupt dulden wird. Oben angekommen, vernehmen die drei Kletterer tatsächlich ein leichtes Ächzen und Vibrieren, das, so beruhigen sie sich, sicherlich vom heute etwas stärker wehenden Wind verursacht wird. Trotzdem: Die statischen Probleme rund um die Spitalkirche, die 1821 für eine Straßenbegradigung relativ humorlos einfach ein Stück kürzer gemacht worden war, sind nicht zu übersehen.
Die Glocke ficht das nicht an. Sie verrichtet ihren Dienst. Und sie hat Gesellschaft. Denn neben ihr, ebenfalls als reine Schlagglocke für die Schläge der vollen Stunden zuständig, hängt ihre etwas größere, aber deutlich jüngere Schwester: 1715 in Königsbronn von Christian Ginther gegossen.
Apropos Gesellschaft: Die haben auch unsere Glöckner. Auf jeder Etappe ihrer Tournee werden sie von Pfarrern, Mesnerinnen und Mesnern oder Ortschronisten begleitet. Den allermeisten von ihnen wird man, wenn schon nicht im Text, so in den Filmen dieser Serien begegnen. Enorm wichtige Unterstützung aus dem Hintergrund leisteten darüber hinaus Dr. Hans Schnieders, der Glockensachverständige der Diözese Rottenburg-Stuttgart, sowie sein Pendant im Dienst der Evangelischen Landeskirche, Claus Huber, und dessen Mitarbeiterin Dorothea Fyfe.
Löcher ohne Seil
Doch nun zurück zur Giengener Glocke von 1573. Dass diese in ihrem früheren Leben nicht nur angeschlagen, sondern auch geläutet wurde, steht keinesfalls nur deshalb zu vermuten, weil in ihrem Inneren sehr wohl noch eine Öse für den Klöppel vorhanden ist, sondern auch, weil im Dachreiter, in dem sie seit jeher hängt, in den Holzböden nach wie vor Löcher zu finden sind, durch die einst das Seil von der Glocke hinab an den Ort geführt wurde, wo sie geläutet wurde.
Heute werden hierzulande Kirchenglocken computergesteuert geläutet. Noch vor 50 Jahren war dies anders oder zumindest anders gewünscht, wie uns diese Notiz aus einer Bekanntmachung des württembergischen evangelischen Oberkirchenrats vom 12. September 1956 anschaulich macht: „Das maschinelle Läuten bleibt immer ein Notbehelf. Die Glocke ist ein Musikinstrument, das von Menschenhand bedient werden sollte. Der Mesner und seine Helfer sollen sich bewusst sein, dass es ein priesterlicher Dienst ist, wenn sie die Gemeinde durch das Glockenläuten zu Gottes Wort und Sakrament und zum Gebet rufen. Sie sollen ihren Dienst darum betend vor Gottes Angesicht tun.“
Wir lernen: Eigentlich sind Kirchenglocken als liturgische Musikinstrumente zu betrachten. Davon können die als reine Schlagglocken eingesetzten Exemplare nur träumen. Genauso übrigens wie die traurigen Reste einer einmanualigen Orgel auf der Empore der Spitalkirche, bei denen es sich sehr wahrscheinlich um die Überbleibsel eines 1862 von der Firma Link gebauten Instruments handelt, das spätestens in den 1960er-Jahren verschrottet wurde.
Identifizierung dank Inschrift
Die Giengener Glocke von 1573 aber hat bislang noch alles überlebt. Auch zwei Weltkriege. Verbrachte sie den Ersten unbehelligt in ihrem Domizil, so wurde es 1942 im Zweiten Weltkrieg gefährlich, als sie zum Einschmelzen abgegeben werden musste, wozu es dann doch nicht kam, weshalb sie 1946 auf dem sogenannten Glockenfriedhof im Hamburger Freihafen wiedergefunden wurde und die Rückkehr in die Heimat antreten konnte. Identifiziert dank der heute noch gut auf ihrer Innenseite zu sehenden, mit weißem Fettstift angebrachten Herkunftsbezeichnung „Giengen a. d. Brenz“. Das Thema Glocken in Kriegszeiten wird uns im Verlauf der Serie übrigens noch intensiver beschäftigen.