Wie vor 300 Jahren die letzte Hinrichtung in Giengen stattfand
Man kann es sich heute gar nicht mehr richtig vorstellen, welch grausames Schauspiel sich am Freitag, 16. Juli 1723, auf dem Schießberg abspielte. Es war der Tag, an dem in Giengen die letzten beiden Hinrichtungen vollzogen wurden. Vor reichlich versammelter Öffentlichkeit wurde erst die 26-jährige Anna Maria Renner und im Anschluss deren Vater, der 57-jährige Weber Johann Jakob Oßwald, mit dem Schwert enthauptet. Den Beiden war Inzest vorgeworfen worden, sie sollen „in Blutschand verfallen“ sein, wie den Einträgen im Totenbuch durch Stadtpfarrer M. Johannes Schnapper zu entnehmen ist.
Gründliche Recherche von Ulrich Stark
Heimatforscher Ulrich Stark hat nicht nur diesen Fall anhand von Eintragungen und Protokollen aus dem Giengener Stadtarchiv gründlich recherchiert, sondern jetzt auch ein Buch herausgebracht, das sich mit allen elf vollstreckten Todesurteilen in Giengen beschäftigt, die bekannt sind. Die sogenannte Blutgerichtsbarkeit, also die Gewalt über Leben und Tod, galt als eines der exklusivsten Vorrechte einer Reichsstadt. In Giengen habe man dieses Vorrecht aber vergleichsweise „recht zurückhaltend ausgeübt“, so Stark. Was vermutlich auch daran lag, dass die Stadt keinen eigenen Scharfrichter hatte.
Den Fall der letzten beiden Hinrichtungen vor 300 Jahren wird Ulrich Stark auch ausführlich im kommenden Giengener Jahrbuch, dem „Kaleidoskop“, dokumentieren. Neben vielen biographischen Details enthält die Aufarbeitung vor allem auch erhellende Hinweise darauf, wie die Bevölkerung in jenen Tagen solche Hinrichtungen wahrnahm.
Hinrichtung als festliches Ereignis
„Hinrichtungen waren im Allgemeinen ein festliches Ereignis“, schreibt Ulrich Stark. Sie seien als Sieg der Justiz über das Verbrechen gesehen worden und stets aufwendig geplante und strukturierte Schauspiele gewesen. Das gesamte Prozedere könne mit einem Theater verglichen werden, da jede öffentliche Exekution eine Inszenierung gewesen sei, eine Aufführung mit festem Drehbuch.
So war es auch an jenem 16. Juli 1723, einem Freitag, der als „Die Executionis“ (Tag der Hinrichtung) in den Protokollen geführt wird. Schon um 6 Uhr in der Frühe meldete Amtsbürgermeister Meyer dem Rat der Stadt, dass am Abend zuvor Scharfrichter Widmann aus Heidenheim eingetroffen sei.
Kurz vor 8 Uhr wurden die beiden Verurteilten dem Blutrichter Johannes Nüßeler übergeben. Hans Jakob Oßwald und seiner Tochter wurde „das letzte oder sogenannte Henckher-Mahl“ gewährt, geliefert aus der Rotochsenwirtschaft. Die Beiden hatten aber keinen großen Appetit, denn sie hätten „nichts außer etlichen Löffel mit Suppen zu sich genommen”.
Um 9 Uhr schlug das Glöcklein
Kurz vor 9 Uhr ließ man das Rathausglöcklein schlagen, als Zeichen dafür, dass der verurteilte Hans Jakob Oßwald und seine Tochter Anna Maria Renner jetzt vor das Rathaus gestellt wurden und Blutrichter Nüßeler von oben herab das Urteil verkündigt. Der neben Nüßeler stehende Ratsherr Simon Miller zerbrach über jedem Verurteilten „das Stäblein“, ein Symbol der Amts- und Gerichtsgewalt. Das Zerbrechen bedeutete, dass der Verbrecher aus der Gemeinschaft seiner Mitmenschen ausgeschlossen war und sein Leben verwirkt hatte.
Der Scharfrichter führte die beiden Verurteilten „zu dem Stieg auff dem Berg“, bewacht von 175 bewaffneten Bürgern. Ein großer Menschenzug begleitete den Zug auf den Schießberg, wobei besonders auf den Standesdünkel geachtet wurde. Dem Magistrat folgte die Oberschicht, danach der große Rest der übrigen Einwohner samt Schaulustigen aus umliegenden Orten.
…daß also auff 10 Uhr alles, und gottlob glücklich und ohne Rumor und Unordtnung, vorbey gewesen
Historisches Ratsprotokoll der Stadt Giengen
Am Richtplatz angekommen, wurden die beiden Verurteilten auf ein speziell angefertigtes Richtstühlchen gesetzt und dort festgebunden. Während der Scharfrichter die Enthauptungen ausführte, läutete wieder das Glöcklein. Im Ratsprotokoll ist vermerkt, „daß also auff 10 Uhr alles, und gottlob glücklich und ohne Rumor und Unordtnung, vorbey gewesen.“
Grab hinter der Stadtkirche
Vier Träger trugen die toten Körper auf einer Bahre hinunter zum Friedhof hinter der Stadtkirche, wo bereits ein Grab für sie ausgehoben war. Zum Ausklang bewirtete der Magistrat die anwesenden Geistlichen und wohl auch andere Standespersonen in der „Goldenen Gans“.
Obwohl die Giengener Richtstätte im Jahre 1732 auf Drängen Württembergs einer Reparatur unterzogen wurde, fand dort nie wieder eine Hinrichtung statt, denn nach 1723 hatte der reichsstädtische Magistrat keine Todesurteile mehr gefällt. „Vielleicht waren nicht nur die Gedanken der Aufklärung Auslöser dieser Entwicklung, sondern einfach der Umstand, dass Hinrichtungen sehr teuer waren“, mutmaßt Ulrich Stark.
Zum Inhalt des Buches
Ulrich Starks neues Buch trägt den Titel „Hinrichtungen in der Reichsstadt Giengen“, hat einen Umfang von 312 Seiten, ist im epubli-Verlag erschienen und im dortigen Shop sowie im Buchhandel erhältlich.
Das Buch beleuchtet alle elf bekannt gewordenen Hinrichtungen, die zwischen 1435 und 1723 in Giengen vollzogen wurden. Daneben werden weitere Fälle vorgestellt, die zu einer Begnadigung führten. Zu den meisten Fällen werden im umfangreichen Anhang auch die entsprechenden Quellen mitgeliefert.