Als sie den Brief der Stadt Giengen öffnete und die Summe sah, die sie künftig bezahlen sollte, traute eine Giengenerin aus der Südstadt ihren Augen nicht. „Ich war regelrecht geschockt“, so die Frau. Bisher habe sie 110 Euro im Jahr an Grundsteuer bezahlt. Nun soll sie 1135 Euro berappen – das ist mehr als das Neunfache.
„Ich hielt das zunächst für einen Fehler und habe mich bei der Stadt erkundigt. Doch was da stand, hat seine Richtigkeit“, sagt die Grundstücksbesitzerin.
Die Stadt Giengen habe, so Giengens Kämmerer Dr. Martin Brütsch, etwa 8500 Bescheide zur Neuveranlagung der Grundsteuer B verschickt. Die allermeisten dürften bei den Bürgerinnen und Bürger mittlerweile angekommen sein. Manch Adressat wird sich gefreut haben, weil künftig weniger bezahlt werden muss, andere wiederum werden mehr berappen müssen.
Grundlage für Veränderungen ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Grundlage für die Veränderungen ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10. April 2018, nachdem die bisherige Bewertung von Grundstücken für die Grundsteuer gegen das Grundgesetz verstößt. Die Berechnung beruhte nach Ansicht des Gerichts auf veralteten Wertverhältnissen: Gleichartige Grundstücke wurden unterschiedlich behandelt.
Die Folge ist eine Grundsteuerreform, welche die Länder unter anderem ermächtigte, vom Grundsteuerrecht des Bundes abzuweichen. Das Land Baden-Württemberg machte von der Öffnungsklausel Gebrauch und erließ im Jahr 2020 ein eigenes Landesgrundsteuergesetz. Für das Grundvermögen (Grundsteuer B) wählte das Land mit dem modifizierten Bodenwertmodell einen eigenen Weg, bei der Land- und Forstwirtschaft (Grundsteuer A) blieb es beim Bundesmodell.
„Die neuen Steuersätze orientieren sich hauptsächlich an der Größe des Grundstücks und seinem Wert, dem sogenannten Bodenrichtwert“, so Giengens Kämmerer, der den eingangs beschriebenen Fall der Frau kennt. Es handelt sich um ein Grundstück im Kernstadtbereich, das über mehr als 1300 Quadratmeter verfügt und zuletzt vor vielen Jahrzehnten veranschlagt wurde. Ringsherum seien aber andere Häuser auf kleineren Grundstücken entstanden, deren Besitzerinnen und Besitzer deutlich mehr bezahlen müssten.
Natürlich seien diese groben Abweichungen von den bisherigen Werten in Einzelfällen gravierend. „Das berührt einen dann schon. Aber in der Neuveranlagung geht es um eine Gleichbehandlung“, so Giengens Kämmerer.
„Ich habe mich beraten lassen bei der Stadt. Mir leuchtet das einerseits ein, aber andererseits empfinde ich es als nicht gerecht, weil ältere Grundstücke meist auch ältere Gebäude haben, deren Instandhaltung Investitionen benötigt“, so die Grundsteuerzahlerin.
Jetzt wird mit Widersprüchen gerechnet
Von der Möglichkeit, bei der Stadtverwaltung nachzufragen, hätten einige Bürgerinnen und Bürger Gebrauch gemacht, so Kämmerer Brütsch. „Einige haben angerufen, manche kamen auch persönlich vorbei. Wir haben das aber erwartet. Der überwiegende Großteil der Bürgerinnen und Bürger reagierte nach den Erklärungen verständnisvoll“, sagt der Kämmerer, der glaubt, dass ein großer Teil der Nachfragen bereits erfolgt sei. Nun wird mit Widersprüchen gerechnet.
Hebesätze wurden im November beschlossen
Die Stadt Giengen will, so hat sie es erklärt, die Reform „aufkommensneutral“ umsetzen. Heißt: Die meisten Eigentümer sollen künftig entweder gleich viel oder weniger Grundsteuer zahlen. Erhöhungen würden sich insbesondere bei großen Grundstücken ergeben, deren Wert seit 1964 stark gestiegen ist und deren steuerliche Bewertung bisher nicht angepasst wurde.
Gestützt auf Berechnungen der Stadtkämmerei hat der Gemeinderat am 28. November 2024 folgende Hebesätze beschlossen: 545 Prozent für die Grundsteuer A (land- und forstwirtschaftliche Grundstücke), 590 Prozent für die Grundsteuer B (Grundstücke überwiegend zu Wohnzwecken).