Der Mann, der die junge Frau am Kragen packt, ist fast zwei Köpfe größer als sie. Die Situation wirkt bedrohlich, die Frau ist angespannt, aber nicht panisch. Plötzlich geht sie in einer raschen Bewegung seitlich am Angreifer vorbei, packt ihn in einer fließenden Bewegung am Kinn und drückt seinen Kopf nach hinten. Der Mann ist so überrascht, dass er das Gleichgewicht verliert und zu Boden geht. Diesen Vorteil könnte die Jugendliche nutzen, um zu fliehen.
So weit kommt es aber nicht, denn in diesem Moment klatscht Oliver Schiele in die Hände und beendet das Geschehen. Es ist ein Mittwochabend in der Giengener Bergschulturnhalle, einer der drei wöchentlichen Trainingstermine bei Krav Maga Defence & Protection. Schiele ist Trainer und Gründungsmitglied des Vereins. Seit einiger Zeit trainieren auch Jugendliche mit und lernen, sich in Ausnahmesituationen zu verteidigen.
Viktoria aus Giengen: „Ich will keine Angst haben.“
Die 13-jährige Viktoria ist eine von ihnen. Seit Frühjahr trainiert sie hier, dreimal die Woche, manchmal in Kleingruppen mit anderen Jugendlichen, meist aber auch zusammen mit den Erwachsenen. „Das ist dann ein bisschen anstrengender“, sagt sie. Ihre Beweggründe, sich selbst in Selbstverteidigung zu schulen, beschreibt Viktoria ganz nüchtern: „Ich will keine Angst haben und ich will, dass auch meine Eltern keine Angst haben.“
Es gehe ihr nicht darum, kämpfen zu können, betont Viktoria. Sie wolle lernen, wie sie aus bedrohlichen Situationen herauskommen kann. Allein das Wissen, sich im Notfall verteidigen zu können, hilft ihr. „Ich fühle mich viel sicherer, mein Selbstbewusstsein ist gewachsen“, sagt sie.
Das bestätigt auch Bastian. Der 13-Jährige kam über seinen Vater zum Krav Maga. Und auch wenn er erst seit wenigen Monaten dabei ist, fühlt er sich bereits sicherer, weil er sich zu verteidigen weiß. Dabei, erzählt Bastian, gehe es im Training nicht nur im Techniken an sich, sondern auch um Kraftaufbau.
Kraftaufbau und Kondition sind wichtige Teile des Trainings
Zu Beginn jeder Trainingseinheit wärmen sich die Teilnehmer auf. Ziel ist, sich für die kommende Einheit zu lockern und den Kreislauf in Schwung zu bringen. Es ist keine gemütliche Gymnastik, eher eine schnelle Abfolge von Übungen, die viele Muskeln zugleich fordern. Während der anderthalb Stunden lässt sich leicht ein ganzes Wochenpensum an Liegestützen absolvieren. Es geht darum, beim Angreifer Schmerzreize zu setzen, ihn zu verwirren und zu überraschen und so die bedrohliche Situation zu beenden.
Seit fünf Jahren bietet der Verein in Giengen Krav-Maga-Training an. Die Idee, auch eine Jugendgruppe zu gründen, ist noch recht neu. Dabei haben die Verantwortlichen zwei Grundsätze, erklärt Schiele: „Wir bilden keine Maschinen aus.“ Soll heißen, die Jugendlichen lernen sich zu verteidigen, aber nicht, aggressiv in Konfrontationen zu gehen. Außerdem hat sich der Verein auf ein Mindestalter von 14 Jahren verständigt, Ausnahmen gebe es lediglich bei entsprechender Reife. Von Anbietern, die schon Grundschulkindern Krav Maga beibringen, distanzieren sich die Giengener.
Auf die eigne Motivation der Jugendlichen kommt es an
Jugendliche absolvieren erst einmal fünf Probetrainings. „Wir wollen sichergehen, dass das Kind das auch wirklich machen will, und nicht die Eltern“, sagt Schiele. Einige der momentan sechs Jugendlichen haben aber ohnehin Eltern oder Elternteile, die auch im Verein aktiv sind. Dass die Jugendlichen mit Erwachsenen trainieren, hat durchaus Methode. Schiele erklärt: „Wer mit einem Erwachsenen klarkommt, kann sich auch gegen Gleichaltrige durchsetzen.“ Zudem führten die gemischten Gruppen erfahrungsgemäß zu einem disziplinierteren Training. Die Gruppendynamik bringt alle Trainierenden dazu, an ihre körperlichen Grenzen zu gehen.
Diese Erfahrung hat auch der 15-jährige Jonas gemacht. Er war zunächst in einem Kampfsport aktiv, weil seine Mutter aber selbst aktiv ist, schnupperte er beim Training in der Bergschulturnhalle rein und entdeckte: „Das hier ist praxisorientierter und aufbauender.“ Das Training bringe ihn „körperlich enorm weiter“, Kraft und Beweglichkeit hätten zugenommen, sein Selbstbewusstsein sei gestärkt. Herausragend findet Jonas den Zusammenhalt in der Gruppe, man feuert sich gegenseitig an und unterstützt sich mit Tipps. Dazu gehört auch, sich zum harten Zulangen zu ermuntern, damit im Extremfall die Hemmschwelle nicht zum Hindernis wird.
Kein Sport, kein Wettkampf
Der Begriff Krav Maga stammt aus dem hebräischen und steht für „Kontaktkampf“. Diese Form der Selbstverteidigung wurde zunächst für die israelische Armee entwickelt und später auch für Zivilpersonen adaptiert. Letzteren soll Krav Maga die Fähigkeit vermitteln, sich möglichst simpel und effektiv verteidigen zu können und gleichzeitig in Stresssituationen Ruhe zu bewahren. Krav Maga gilt nicht als Sportart, es werden auch keine Wettkämpfe ausgetragen.