Stünde die Memminger Wanne für die Republik, könnte die Alternative für Deutschland mit einer absoluten Mehrheit das Land regieren. Im östlichen Stadtteil hat die AfD Werte erreicht, die in dieser Höhe nicht erwartbar waren.
Das Wohngebiet war seit seinem Entstehen Anfang/Mitte der 1990er-Jahre bei Wahlen eine Bank für die CDU. In den vergangenen Jahren hat sich das geändert. Bei der Bundestagswahl 2021 schaffte es der Kandidat der AfD – der in Giengen auf Platz drei mit knapp 14 Prozent der Stimmen lag – immerhin auf 33 Prozent in einem der beiden Wahlbezirke der Memminger Wanne. Die aktuellen Ergebnisse im Osten der Stadt toppen dieses Resultat bei weitem: Im Giengener Wahlbezirk 9 kam Dr. Jürgen Müller von der AfD bei den Erststimmen auf 65,1 Prozent, die AfD bei den Zweitstimmen auf 64,8 Prozent. Im Wahlbezirk 10 lag Müller mit 58,4 Prozent auf Platz eins, die AfD mit 54,8 Prozent der Zweitstimmen vorn. Anders ausgedrückt: Die in Teilen als gesichert rechtsextrem eingestufte Partei räumte in der Memminger Wanne bei den 860 Wählerinnen und Wählern, die ihre Kreuze gemacht haben, mächtig ab.
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CDU verkörpert möglicherweise nicht mehr das Familienbild der Russlanddeutschen
Wie lässt sich das erklären? Die Wanne ist ein Wohngebiet mit überdurchschnittlich hohem Anteil an Menschen, deren Wurzeln in der Sowjetunion liegen und die, beziehungsweise deren Vorfahren, im Zuge des Zerfalls der UdSSR nach Deutschland umsiedelten. Die CDU dürfte nicht mehr das Familienbild und die Werte verkörpern wie einst. Hinzu kommen könnte ein Neid auf staatliche Leistungsbezieher, die Ablehnung der deutschen Flüchtlingspolitik unter Kanzlerin Angela Merkel. Auch der Einfluss von russischen Medien, die laut dem Bundesnachrichtendienst erwiesenermaßen Verschwörungstheorien und Fake News einen Platz geben, könnte eine Rolle bei der Stimmabgabe spielen.
Weitaus schwieriger fällt die Einordnung des Ergebnisses in anderen Wahlbezirken aus – etwa im Teilort Burgberg: Dort kam Dr. Müller bei den Erststimmen in einem Wahlbezirk auf 37,61 Prozent, im anderen gar auf 43,6 Prozent. Bei den Zweitstimmen erreichte die AfD 34, beziehungsweise 43 Prozent. Auffällig ist, dass die Wahlbeteiligung mit 55 und 54 Prozent in den beiden Bezirken vergleichsweise niedrig ausgefallen ist. Aber sonst? Was verleitet Menschen dazu, eine Partei zu wählen, die vorwiegend auf die Karte Migration setzt? Im Ort gibt es weder eine signifikante Anzahl an ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, noch sind dort in größerer Anzahl Asylsuchende untergebracht. Gibt es im Ort vielschichtige Probleme, die von außen gesehen nicht erkannt werden?
Ergebnis in Burgberg gibt Rätsel auf
Das Ergebnis für die AfD in Burgberg gibt ähnliche Rätsel auf wie das in einem Wahlbezirk in Hohenmemmingen, in dem Müller und die AfD ebenfalls auf Platz eins landeten – auch wie in Wahlbezirken in der Schwage in der Kernstadt.
Am Schwächsten schnitt die Partei, die mit der Spitzenkandidatin Alice Weidel angetreten war, in Sachsenhausen ab: Dort kam sie bei den Erststimmen auf knapp 15, bei den Zweitstimmen auf 19 Prozent. Roderich Kiesewetter (CDU) holte knapp 50 Prozent der Stimmen, die CDU 40 Prozent. Auch in einigen der insgesamt sieben Briefwahlbezirke blieb die „Alternative“ unter der 20-Prozent-Marke.
Nur in Dischingen schnitt die AfD im Landkreis besser ab als in Giengen, aber nirgendwo sonst im Landkreis schafften es die Rechtspopulisten auf Platz eins bei den Zweitstimmen – vor der CDU. In Giengen legte die AfD gegenüber 2021 um 15,55 Prozentpunkte zu.
Politik-Protagonisten anderer Parteien sind gefordert
Bleibt die Frage, welche Handlungsnöte sich daraus ableiten? Oberbürgermeister Dieter Henle sagte beim Neujahrsempfang hinsichtlich eines hohen Stimmenanteils für die AfD in Teilen der Stadt bei der Europawahl 2024: „Es kommt auf jede und jeden an – auf uns alle. Diese Verantwortung nimmt uns keiner. Und niemand kann nachher sagen, er habe es nicht gewusst. Demokratie verbindet sich mit dem Streiten für überzeugende Lösungen. Sie ist nicht die einfachste, aber eben die Staatsform, zu der es keine gute Alternative gibt. Ich wünsche mir, dass wir alle das in Gesprächen, die sich alltäglich ergeben, denen bewusst machen, die sich anders äußern. Nehmen wir das Gespräch auf. Machen wir deutlich, dass es die versprochenen einfachen Lösungen nicht gibt.“
Reden, diskutieren, streiten: das alles kann sicher helfen. Andererseits ist auch die Politik und ihre Protagonisten außerhalb der AfD gefordert, einen Blick nach Giengen zu richten - nicht nur, wie zuletzt mehrfach geäußert wurde, weil sich die Stadt im Aufbruch befindet.
Wahlbeteiligung zum Teil unter 50 Prozent
Insgesamt lag die Wahlbeteiligung in Giengen bei 78,39 Prozent, und damit deutlich höher als 2021 (69,49 Prozent). In zwei Wahlbezirken lag die Beteiligung allerdings unter 50 Prozent (Innenstadt und Gymnasium 1), in einem genau bei 50 Prozent (Realschule 1).