Auf den ersten Blick ein klarer Fall: Ein 45-Jähriger aus Giengen bestellt in den Niederlanden 150 Gramm Heroin und mehr als 20 Gramm Kokain, eine vielleicht etwas naive Frau lädt die Drogen dort in ihr Auto und fährt damit nach Giengen. Dort wird die Übergabe schon von der Polizei beobachtet, der Mann ist nur Augenblicke im Besitz der Ware und sieht sich dann einer schwer bewaffneten Einheit gegenüber. In einer Vorabendserie wäre die Geschichte gut aufgegangen: Die schöne, verzweifelte Kurierin und der Dealer, den seine Kumpels den „Fettsack“ nennen – klar verteilte Rollen.
Das Ellwanger Landgericht fand am Montagabend nach einem langen Verhandlungstag sein Urteil, und weil das Leben oft aus Zwischentönen besteht, bewertete die 2. Große Strafkammer unter Vorsitz von Richter Jochen Fleischer die Taten sehr differenziert: Der Giengener muss für dreieinhalb Jahre ins Gefängnis, die Niederländerin wurde zu zwei Jahren und fünf Monaten Haft verurteilt – für einen Kurierlohn von 300 Euro.
Der Vorwurf
Unumstritten war, dass der Giengener Mitte August vergangenen Jahres Heroin und Kokain bestellt hatte, unbestritten fuhr die 33-jährige Angeklagte mit dem Drogenpaket in der Handtasche und der jüngsten ihrer drei Töchter im Kindersitz in den Niederlanden los. Obwohl man ihr offenbar die falsche Postleitzahl mitgeteilt hatte, fand sie den Weg auf die Ostalb. Die Staatsanwaltschaft nahm an, dass der 45-Jährige die Drogen weiterverkaufen wollte. Für „Einsteiger“ hätte das Heroin mehr als 5000 Konsumeinheiten ergeben, das Kokain hätte für mehr als 700 Einheiten gereicht. Auffällig war nach Ansicht des Staatsanwalts auch, dass der Giengener, quasi als Anzahlung, lediglich 2000 Euro an die Kurierin übergeben sollte. Der Frau warf die Anklage die verbotene Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge vor, dazu Beihilfe zum Drogenhandel. Der Mann war wegen Anstiftung zur Einfuhr angeklagt. Außerdem wurde ihm der beabsichtigte Handel vorgeworfen.
Was sagte die Angeklagte?
Weil ihre Mutter sich nicht um sie gekümmert habe, wuchs die 33-Jährige bei den Großeltern in Marokko auf. Mit 15 wurde sie an einen Cousin verheiratet, der einige Jahre später der Vater ihres ersten Kindes wurde. Glücklich wurde die gelernte Krankenschwester nicht, 2016 ließ sie sich scheiden, ihre Familie verstieß sie daraufhin. Ihr zweiter Mann, mit dem sie zwei Kinder hat, brachte ihr auch kein Glück, nach der Trennung bedrohte er sie. Um die Kinder kümmerte sich keiner der Väter jemals.
Da erschien ein Unbekannter auf der Bildfläche, der ihr Geld für Fahrten nach Deutschland versprach. Sie wusste wohl, was sie da transportierte, auf die Frage von Richter Fleischer, ob sie selbst je Drogen genommen habe, rief sie erschrocken: „Nein, nein! Ich bin nicht einmal in die Disco gegangen!“ Die Vorwürfe in der Anklage räumte sie ohne Umschweife ein. Sie habe in den sechs Monaten Untersuchungshaft in Schwäbisch Gmünd gesehen, was Drogen mit Menschen anrichten können. „Ich hoffe auf eine Chance, aber ich weiß nicht, ob ich sie verdiene“, sagte sie. Sie wolle ihre Kinder wiedersehen, die in Holland in amtlicher Betreuung seien. Die Frage, ob sie weitere Kurierfahrten unternommen hatte, ließ die Frau auf Anraten ihres Verteidigers unbeantwortet.
Was sagte der Angeklagte?
Der Giengener ließ seinen Anwalt eine vorbereitete Erklärung verlesen. Demnach sei er Anfang August mit seiner Mutter im Urlaub gewesen, als sowohl in seiner als auch in der Wohnung der Mutter eingebrochen wurde. Die Diebe hätten den Großteil der Altersvorsorge seiner Mutter mitgenommen, unter anderem Schmuck und Bargeld. Es kam der Verdacht auf, dass seine Bekannten aus dem Drogenmilieu hinter dem Einbruch standen, das jedenfalls warf ihm die Familie vor. Dieser Stress habe bei ihm zu „Suchtdruck“ geführt, und um diesen zu lindern, habe er Heroin und Kokain bestellt – ausschließlich für den Eigenbedarf, wie der Anwalt betonte.
Der Mann gilt als schwer suchtkrank, seit 25 Jahren konsumiert er harte Drogen, längst leidet er unter schweren Begleiterkrankungen. Bis zu fünf Gramm Heroin habe er pro Tag genommen, vor allem geschnupft. Die Lieferung aus Holland hätte nach seiner Rechnung für etwa anderthalb Monate gereicht.
In der Vergangenheit stand der arbeitsunfähige Mann schon etliche Male wegen Drogendelikten vor Gericht. Der Handel mit Rauschgift brachte ihm bereits mehrere Haftstrafen ein. Einmal schaffte er es, fünf Jahre „clean“ zu bleiben, nach dem letzten stationären Entzug bewältigte er lediglich einige Monate ohne Drogen. Zum Tatzeitpunkt stand er noch unter Bewährung.
Was sagte der Ermittler?
Die Polizei kam dem 45-Jährigen im Rahmen einer Telekommunikationsüberwachung auf die Schliche. Die Lieferung nach Giengen habe sich recht konkret aus einem Chat ableiten lassen, erklärte der ermittelnde Kripobeamte in seiner Aussage. Sie seien von einer Bestellung auf Kommissionsbasis ausgegangen, sprich: Aus der schieren Drogenmenge und der Tatsache, dass ein eher geringer Kaufbetrag vereinbart wurde, schlossen sie, dass zumindest ein Teil der Ware weiterverkauft werden sollte. Nach der Festnahme stellte sich heraus, dass bereits sogenannte Streckmittel mitgeliefert worden waren. Mithilfe des Pulvers, in diesem Fall Paracetamol und Koffein, sollte das relativ reine Heroin gemischt und so noch lukrativer werden.
Was sagten die Verteidiger?
Der Verteidiger des Giengeners warf der Polizei vor, sie hätten ihre Ermittlungen vor allem auf Interpretationen gebaut. Er hingegen sehe es als erwiesen an, dass sein Mandant bei der Bestellung nur Eigenkonsum im Sinn hatte, nicht aber Handel vor Ort in Giengen. Der Mann habe die Drogen zwar unter einer niederländischen Telefonnummer bestellt, habe aber nicht wissen können, dass er tatsächlich im Ausland bestelle. Diese Annahme ist rechtlich tatsächlich relevant, weil die Einfuhr von Drogen über eine Landesgrenze hinweg sich deutlich strafverschärfend auswirkt. Den Erwerb und sehr kurzzeitigen Besitz der Drogen habe sein Mandant eingeräumt.
Weniger Haft geht bei dieser Menge nicht.
Jochen Fleischer, Vorsitzender Richter
„Sie hat überhaupt nicht rumgemacht“, sagte der Verteidiger der Niederländerin. Sie habe Reue und Einsicht gezeigt und erheblich unter der bisherigen Haft gelitten. Bis heute unbekannte „Hintermänner“ hätten die Not einer alleinerziehenden Mutter ausgenutzt.
Wie urteilte die Strafkammer?
Der Mann aus Giengen muss für dreieinhalb Jahre in Haft, die 33-Jährige für knapp zweieinhalb Jahre. Bei ihr nahm das Schöffengericht an, dass sie nicht zum ersten Mal als Fahrerin eingesetzt worden war. Dem Angeklagten unterstellte die Kammer, dass er sehr wohl habe Handel treiben wollen. „Wie soll er solche Mengen finanzieren, wenn er nicht einen Teil weiterverkauft?“, fragte Richter Fleischer. Dem Urteil liege „keine mathematische Sicherheit, sondern unsere Überzeugung“ zugrunde. Die Niederländerin habe zwar keine Vorstrafen gehabt, angesichts der großen Menge transportierter Drogen liege aber auch kein minderschwerer Fall vor. „Weniger Haft geht bei dieser Menge nicht“, so Fleischer und fügte mit Blick auf beide Angeklagten hinzu: „Aus unserer Sicht ist das ein sehr mildes Urteil.“
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