Interview

Zufriedenheit trotz Dauerkrise? Das rät der Leiter der Heidenheimer Diakonie Frank Rosenkranz

Krieg, Klima, Katastrophen – kann man in der Dauerkrise glücklich sein? Lebt es sich leichter, wenn man an Gott glaubt? Kann man die AfD aussitzen? Und haben die Rolling Stones das ultimative Rezept für eine lebenslange Beziehung? Ein Gespräch mit Frank Rosenkranz, Sozialpädagoge und Leiter der Diakonie Heidenheim.

Herr Rosenkranz, Sie sind etwas älter als ich und können das besser beurteilen: Erleben wir gerade die schwierigste Zeit seit vielen Jahrzehnten?

Jede Zeit hat ihre Schwierigkeiten. Und jede Zeit hat ihre Höhen und Tiefen. Natürlich passiert gerade viel in der Welt, aber das war schon immer so.

Aber die Menschen sind unsicher.

Ich denke, das liegt vor allem an der Flut an verfügbaren Informationen. Wenn ich will, kann ich mir meine Nachrichten von einem staatlich gelenkten Sender aus Russland holen. Dazu die sozialen Medien. Früher hatte man das Gefühl, wenn man die Zeitung aufschlägt oder den Fernseher einschaltet, bekommt man die richtigen Nachrichten. Das ist heute anders und man ist außerstande, die richtigen Informationen auszuwählen.

Frank Rosenkranz ist Leiter der Diakonie Heidenheim. Rudi Penk/Archiv

Früher wurden die Nachrichten von Journalisten ausgewählt und gewichtet. Heute kann sich nun mal jeder seine eigenen richtigen Nachrichten aussuchen. Man muss seine Blase gar nicht mehr verlassen und kann nur noch das lesen, was die eigene Meinung bestätigt.

Ja, genau. Man muss ja nur an die Querdenker denken, die sich ihre Wahrheit nur noch aus dem Internet holen. So kann durchaus der Eindruck entstehen, es ist eine schlimme Zeit, wir haben nur noch Krisen und es passiert gar nichts Gutes mehr.

Ein notorischer Lügner mit diktatorischen Ambitionen wird vielleicht zum zweiten Mal US-Präsident, Bauern, die Politiker einsperren wollen, Kriege, das Klima - Sie haben in das Gespräch eingewilligt, weil Sie keinen Pessimismus, sondern Hoffnung verbreiten wollen.

Und obwohl ich Hoffnung verbreiten will, sprechen Sie mit mir (lacht). Ich glaube, nicht alle Medien wollen Optimismus verbreiten. Das schätze ich so an Ihnen.

Aber wir leben doch in einer Dauerkrise und ich persönlich sehe für die Zukunft eher schwarz. Haben Sie nie Angst oder sind zumindest besorgt?

Angst habe ich nicht, aber es gibt schon Dinge, über die ich besorgt bin.

Welche?

Dinge, die meine Kinder betreffen zum Beispiel.

Die Klimakrise betrifft Ihre Kinder.

Und deshalb tue ich im Kleinen, was ich beitragen kann. Ich sammle Müll, ich spare Energie. Ich glaube, wir denken mittlerweile alle viel zu groß und blicken auf die ganze Welt. Dabei sollten wir erst mal hier bei uns vor der Haustüre schauen, was man tun kann. Ich versuche die Not in meiner unmittelbaren Umgebung wahrzunehmen und mich dort zu engagieren. In einem sozialen Netzwerk bin ich übrigens nicht tätig.

Lebt es sich leichter, wenn man an Gott glaubt? stock.adobe.com/tong2530

Und haben trotzdem nicht das Gefühl, etwas zu verpassen?

Überhaupt nicht. In der Bibel steht: "Es wird zu viel geschrieben." Dieser Satz ist 4.000 Jahre alt. Aber es geht weniger ums Schreiben. Allein diese Flut an Talkshows – wenn ein Politiker ins Fettnäpfchen tritt, wird das wiederholt und wiederholt, breitgetreten und man weidet sich daran. Das sehe ich mir nicht mehr an.

Es ist heute viel schwieriger, Politiker zu sein.

Absolut. Ich möchte nicht tauschen.

Zurück zu Ihrem Medienkonsum. Sie sind also eher Team News Avoidance und nicht Team Doomscrolling? Also Sie meiden Nachrichten eher und verbringen nicht viel Zeit damit, schlechte Nachrichten zu lesen?

Ich zähle mich zu keiner dieser Gruppen. Ich lebe in der Welt, aber gönne mir auch Zeiten der Ruhe, in der ich keine Nachrichten lese. Grundsätzlich ist meine wichtigste Quelle aber die Tageszeitung.

Sie verstehen, dass sich manche Menschen komplett ins Private zurückziehen?

Wenn es dem Menschen damit gut geht, dann soll er das machen. Jeder soll nach seiner Fasson glücklich werden. Wir müssen nicht alle miteinander leben. Es reicht, wenn wir friedlich nebeneinander leben und jeder den anderen lässt, wie er ist. Das Lebensmotto meines Schwiegervaters ist: leben und leben lassen. Das habe ich verinnerlicht.

Das heißt, wir müssen uns nicht alle verstehen?

Nein, müssen wir nicht. Ein friedliches Nebeneinander kann wunderbar funktionieren. Und wir sind doch alle gar nicht so unterschiedlich. Die Menschen haben alle dieselben Sorgen, um ihre Kinder, die Enkel, sie wollen etwas Gutes zu essen und zu trinken haben.

Und wenn man befürchtet, sich das nicht mehr leisten zu können. Ich glaube, die Abstiegsangst – berechtigt oder nicht – ist groß. Ich nehme an, Sie finden es richtig, dass das Bürgergeld erhöht wird?

Das ist richtig. Wir leben schließlich in einem Sozialstaat.

Ich habe den Eindruck, dass soziales Denken bei vielen Menschen immer mehr abhandenkommt. Warum ist die Wut auf vermeintliche Sozialbetrüger größer als auf Millionäre und Superreiche, die aus jeder Krise Profit schlagen und eine ganze Branche der Steuervermeidung am Leben halten.

Das war schon immer so. Was glauben Sie, von welchem Geld die Ägypter ihre Pyramiden gebaut haben? Die Last haben immer die Normalbürger getragen und ausgebeutet wurden immer die Schwächsten. Aber wir hatten Zeiten, und die wünsche ich mir zurück, wo die Verantwortlichen und Politiker der Gier Einhalt geboten haben, wenn sie zu groß wurde. Das fehlt mir gerade.

Sie sagen ,gerade‘. Wollen Sie auch ins Ampel-Bashing einstimmen? Solche Entwicklungen sind doch älter als zwei Jahre. Viele im Land scheinen vergessen zu haben, dass wir 16 Jahre lang eine CDU-geführte Regierung hatten.

Natürlich kann man das nicht an der jetzigen Regierung festmachen. Dieses Übernehmen und Abgeben von Verantwortung verläuft zyklisch. Ähnlich wie Wirtschaftskreisläufe.

Also müssen wir die schwierige Phase einfach aussitzen und dann wird es automatisch irgendwann besser?

Das glaube ich, ja.

Kann man auch die AfD einfach aussitzen?

Nein, das kann und sollte man nicht. Vor der letzten Landtagswahl haben wir die Kandidaten aller Parteien zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. Dabei hat sich die AfD komplett entkleidet. Es war klar, dass sie nur Parolen raushauen, aber überhaupt keine Lösungen haben. Deshalb bin ich dafür, dass man auch mit ihnen im Gespräch bleibt.

Ist eine Blamage besser als ein Verbot?

Ich würde mir wünschen, dass man manche Personen verbieten kann, denn es sind Nazis in der Partei. Aber nicht jeder, der sie wählt ist ein Nazi. Es sind einfach Menschen, die sich blenden lassen. Und das hatten wir leider schon einmal. Aber ich vertraue auf unseren Staat. Wenn unsere unabhängige Gerichtsbarkeit zum Schluss kommt, dass die Partei verfassungsfeindlich ist, dann muss sie verboten werden, um das Volk vor ihr zu schützen.

Sie haben Vertrauen in den Staat, in die Menschen, in die Welt. Woher nehmen Sie diesen Optimismus?

Ja, ich habe Vertrauen. Natürlich spielt bei meiner inneren Einstellung auch der Glaube eine große Rolle. Und die Liebe ist für mich der Motor.

Meinen Sie die Liebe zu Ihrer Frau?

Liebe ist ein sehr umfassender Begriff, der Nächstenliebe und auch die Liebe zu einem nahestehenden Menschen beinhaltet. Und sie ist meiner Meinung nach das Einzige, was wirklich wichtig ist.

Was ist mit Gesundheit?

Ich hatte heute eine behinderte Dame bei mir. Sie wünscht mir immer Gesundheit, wenn wir uns verabschieden. Ich sage dann immer: ,Das ist nicht das Wichtigste. Wir sind ja beide nicht gesund, können aber trotzdem glücklicher sein. Viel wichtiger ist, dass uns jemand lieb hat.‘

Andere Menschen zu lieben und das Gefühl, von anderen geliebt zu werden, das ist für Sie Glück?

Unbedingt. Ich saß vor kurzem mit ehrenamtlichen Hospizhelfern zusammen. Und manchmal frage ich mich: Warum machen die das? Die begleiten jeden Tag Menschen in der größten Not. Die machen das, weil ganz viel zurückkommt. Sie geben Nähe und Liebe, indem sie eine Hand halten. Und sie bekommen glänzende Augen zurück. Das Gefühl, gebraucht und geliebt zu werden, macht stark. Das verursacht Glücksmomente und daraus kann auch anhaltendes Glück werden. Das können dann auch schwere Zeiten nicht kaputtmachen.

Kann man die eigene Lebenszufriedenheit steigern, indem man Gutes tut?

Ja, und ich glaube, wenn man Gutes tut, kommt Gutes zurück. Das ist meine Lebenserfahrung.

Darf man eigentlich auch unglücklich sein?

Natürlich. Das kann auch Lebensinhalt sein. Menschen, die einsam sind, sind ja nicht immer glücklich. Aber man kann sich immer Hilfe suchen und dadurch wird die Welt weniger dunkel.

Ist Glück nur eine Momentaufnahme und ist der Sinn im Leben wichtiger, weil er nachhaltiger ist? Oder würden Sie Glück und Sinn synonym verwenden?

Das gehört zusammen. Ein sinnvolles Leben ist ein glückliches Leben. Ein sinnhaftes Leben.

Und was ist für Sie sinnhaft und sinnvoll?

Ich kann mich nur wiederholen: Geliebt zu werden und Liebe zu geben, das ist für mich ganz zentral. Nehmen Sie zum Beispiel meine Mitarbeiter. Was die machen, ist Liebe weitergeben, weil sie Menschen in Not helfen.

Geht es Ihnen besser als mir, weil Sie an Gott glauben und ich nicht?

Mir geht es jedenfalls gut (lacht). Ob es mir besser geht, als Ihnen, weiß ich nicht. Ich kenne Ihren Lebensanspruch nicht.

Den muss man erst mal finden. Was ich gar nicht so leicht finde.

Ich glaube, wer den Sinn des Lebens sucht, der sucht Gott. Ob er das weiß oder nicht.

Mein Lebensanspruch ist es, ein guter Mensch zu sein.

Das kann auch die Suche nach Gott sein. Ohne, dass Sie es wissen.

Ich denke, man hat es leichter, wenn man an Gott glaubt.

Nein, Glaube ist auch nicht leicht. Er beinhalte Hoffnung, aber auch Zweifel. Das macht nicht nur glücklich.

Die Hoffnung überwiegt wohl in der Regel.

Ja, natürlich. Das ist das Gute daran.

Man kann aber Sinn im Leben finden, ohne gläubig zu sein?

Hm. (denkt nach). Es gibt auch Leute, für die ist es der Sinn des Lebens, Geld zu verdienen. Ob das aber glücklich macht, bezweifle ich. Es gibt ja immer jemanden, der noch mehr hat. Ich glaube nicht, dass das Streben nach mehr nachhaltig glücklich macht.

Sie glauben auch nicht, dass man den perfekten Partner braucht, um glücklich zu sein?

Ich habe die perfekte Frau (lacht).

Glückwunsch. Haben Sie vielleicht Tipps für eine glückliche Ehe?

Das ist schwierig.

Als Sozialarbeiter müssten Sie doch jetzt sagen: Respekt, zuhören, Kompromisse eingehen.

Wenn Sie solche Tipps wollen, müssen Sie zu einem Lebenscoach gehen. Solche Tipps gebe ich nicht. Wissen Sie, was Keith Richards gesagt hat, warum die Rolling Stones auch nach 62 Jahren noch zusammen sind?

Möglichst wenig miteinander kommunizieren.

Ist das nicht ein schöner Satz? (lacht)

Er und Mick Jagger können sich aber auch nicht leiden. Das kann ja nicht Ihr Rezept für eine glückliche Ehe sein?

Nein, bei uns ist es umgekehrt. Wir reden sehr viel und wir haben viele gemeinsame Interessen. Ich glaube, das ist ein guter Motor.

Finden Sie, dass Corona die Gesellschaft verändert hat?

Natürlich. Das hat uns viel reicher gemacht.

Habe ich Sie richtig verstanden? Reicher?

Ja. Denken Sie mal an die ganzen Videoclips, die viral gingen. Vor den Altenheimen standen Leute und haben gesungen und musiziert. Wir sind brutal kreativ geworden. Ich habe es auch in der Stadt sehr gespürt, dass die Menschen Liebe weitergeben wollen. Das hat uns doch unglaublich bereichert.

Das war in der ersten Welle und bevor man montags spazieren ging.

Klar, jede Medaille hat immer zwei Seiten. Als Jesus sein Wirken begann haben sich die Schriftgelehrten auch Gedanken gemacht, ob er damit im Volk einen Schaden anrichten kann. Und dann hat einer gesagt: Wenn er wirklich Gottes Sohn ist, dann können wir das nicht verhindern. Und wenn es von Menschen gemachter Kram ist, dann wird es im Sande verlaufen. Und ich glaube, wenn diese Montagsdemos fruchtbringend gewesen wären, dann würde es sie heute noch geben.

Gut, die laufen jetzt ja wohl bei den Bauern mit.

Ja, genau. Und daran sieht man, dass die gar keine Frucht bringen. Die suchen sich etwas, wo sie sich dranhängen können. Das ist nicht nachhaltig und auch nichts, was mich besorgt. Ich habe in der DDR gelebt, als sich 1988 die ersten Bürgerrechtsbewegungen gegründet haben. Und da hat man gemerkt: Der Protest hat nicht aufgehört und die Regierung musste sich irgendwann Sorgen machen. Aber das sehe ich im Moment noch nicht. Und während Corona hat die Welt auch zusammengehalten. Es gab viele gute Dinge.

Ich glaube, die Pfleger, für die man applaudiert hat, sehen das anders. Viele verlassen die Pflege, weil sie desillusioniert sind und sich nichts geändert hat.

Da muss sich der Gesundheitsminister Gedanken machen. Vor der Wahl hat Karl Lauterbach gesagt, wenn er an die Macht kommt, wird er die Bürgerversicherung einführen. Er ist quasi der Erfinder der Bürgerversicherung, die die gesetzliche Krankenversicherung für alle bedeuten würde und ein großer und wichtiger Schritt wäre.

Er regiert nun mal nicht allein.

Aber warum sind unsere Politiker nicht in der Lage, so etwas Kluges um- und durchzusetzen.

Weil namentlich zum Beispiel Herr Lindner das ganz anders sieht?

Das ist das Problem, das wir haben. Wir haben eine zu große Koalition. Die ist nicht so handlungsfähig wie mit zwei Parteien.

Viele Köche verderben den Brei, meinen Sie.

In dem Fall ja.

Was halten Sie denn von den Bauernprotesten?

Ich glaube, die haben das ganz gut im Griff.

Das Land?

Nein, die Quereinsteiger, wie ich sie nenne, fernzuhalten. Es ist ein in der Verfassung garantiertes Recht und ein Verdienst unserer Demokratie, dass man demonstrieren darf, wenn einem etwas nicht passt. Ich kenne Bauern, die da mitgemacht haben. Und ja: Ich kann ihre Sorgen verstehen. Die stören natürlich Abläufe. Aber in dem Fall ist es ein legitimes Recht und ich finde es gut, dass es so friedfertig läuft.

Manche führen Galgen mit sich.

Wer sowas macht, weiß ich nicht. Und das ist nicht akzeptabel.

Zur Person

Frank Rosenkranz ist 1962 in Torgau an der Elbe geboren. Er ist Diplom-Betriebswirt, Diplom-Sozialpädagoge und Sozialwissenschaftler (Master of Arts) und hat in Leipzig, Heidenheim und Kaiserslautern studiert. Seit 1989 lebt und arbeitet er in Heidenheim und leitet die Diakonie seit 2009. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

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