Mikroabenteuer

Darf es ein bisschen weniger sein? Warum das Treffen von Entscheidungen Fluch und Segen ist

Dominik Florian steht tagtäglich vor unzähligen Entscheidungen. Vier Tage lang wollte er keine treffen. Ein Vorhaben, das nicht ganz geklappt hat.

Darf es ein bisschen weniger sein? Warum das Treffen von Entscheidungen Fluch und Segen ist

Darf es ein kleines bisschen mehr sein? Nicht nur an der Käsetheke bekomme ich die Frage gestellt. Die Antwort braucht es eigentlich nicht. Ich habe mich noch nie „nein“ sagen hören. Und die Male, die ich einen Supermarkt verlasse, ohne etwas nicht wirklich Notwendiges mitgenommen zu haben, lassen sich an einer Hand abzählen. Es wird immer mehr. Es genügt ein Blick in die Regale der Großsupermärkte, in denen 43 Schokoladensorten warten, später dreizehn verschiedene Sorten Lachs und unzählige Flaschen von Ölen und Essigen. Immer wieder habe ich vor der Auswahl verweilt, habe mich entschieden, umentschieden, bin noch einmal zurückgelaufen und habe doch wieder getauscht. So viele Optionen.

Das Überangebot lauert schon in den eigenen vier Wänden

Für diesen Entscheidungsdschungel muss ich aber gar nicht meine Wohnung verlassen. Bestes Anschauungsstück ist mein liebster Raum – die Küche. Mein Messerblock wird von neun Messern beschwert, sechs Pfannen quetschen sich in das Topfkarussell und sage und schreibe 14 Kaffeebecher und zehn Espressotassen bilden die engere Auswahl, die es in den Küchenschrank geschafft hat. Ich könnte sie alle einmal verwenden. Um ehrlich zu sein, verwende ich vier Messer, zwei Tassen und zwei Pfannen. Kaffee und Tee trinke ich doch sowieso aus meiner Lieblingstasse. Bei der passt die Größe, die Farbe und Gefühl beim Trinken. Es passt alles. Und trotzdem brauche ich für die fast immer gleiche Entscheidung so meine Bedenkzeit.

Nächstes Zimmer. Das mit dem Kleiderschrank. Ich muss gestehen, da verhält es sich ähnlich wie im Supermarkt. Die Hosenzahl ist zweistellig, die Hemdenzahl auch, Shirts und Pullover gibt es noch viel mehr. Daraus dann die Kombination zu finden, die sich gut anfühlt, irgendwie zusammenpasst und nicht schon zu oft getragen wurde? Gar nicht so einfach. Da braucht es auch mal drei oder vier Versuche. Im Flur wartet dann auch noch die Palette an Schuhen und Jacken. Komplex sind auch diese Entscheidungen nicht, aber ich stelle mich ihnen tagtäglich.

Bei Entscheidungen gilt: Auch Kleinvieh macht Mist

Es sind kleine, die aber aneinandergereiht das Zeitfenster für doch sehr viel wichtigere Dinge arg schmälern. Deshalb habe ich die Entscheidung getroffen, die kleinen Entscheidungen für fünf Tage nicht zutreffen. Was esse ich, was ziehe ich an, wie schaut die Abendunterhaltung aus? Bei dem Abenteuer soll nur die Zahl der Entscheidungen mikroskopisch klein sein.

Die Vorgabe: Ich entscheide mich für ein Essen, ein Outfit und eine Beschäftigung für die Abende. Beim Essen mache ich es mir leicht. Der Backofen wird angeworfen, zum Mittag gibt es immer Gemüsetarte und über den Tag helfen Bananenbrot, Obst und ein paar Nüsse. Abends wartet ein einfaches Vesper. Einmal eingekauft, einmal gebacken, schnell zubereitet und ich weiß, dass es mir schmeckt. Zu trinken gibt es nur Kaffee und Wasser. Das alles wird von einem Teller, aus einer Tasse, einem Glas und einem Brettchen gegessen und getrunken.

Kleine Tricks helfen bei der Klamottenwahl

Bei der Kleidungswahl habe ich mich an meinen letzten Urlaub erinnert. Nach einer Wanderwoche, bei der aus Platzgründen nur Klamotten mit kleinem Packmaß dabei waren, habe ich – zurück und mit voller Kleidungsauswahl – zu meiner Lieblingsjeans und einem bequemen T-Shirt gegriffen. Dazu gab es wegen der Temperaturen leichte Stoffschuhe. So steht das Outfit für das Abenteuer. Die Entscheidung für die Unterhaltung habe ich mir abnehmen lassen und folge einer Buchempfehlung, die ich mir vor meinem Urlaub habe geben lassen.

Der Vortag: Mit einer fertigen Zutatenliste ging es zum Einkaufen und der Griff ging nur zu dem, was auch auf der Liste stand. Der Blick auf andere Kleinigkeiten war zwar verlockend, aber es galt den Tunnelblick zu wahren. Das Vorbereiten und Backen hat doch seine Zeit in Anspruch genommen. Dagegen lag das Buch bereit, die Klamotten wurden abends auf den Stuhl gelegt. Wasserglas und Espressotasse warteten neben der Kaffeemaschine.

Der erste Tag: Das ging schnell. Da das Frühstück bei mir weitgehend ausfällt, waren dank bereitliegendem Outfit und wartender Kaffeetasse die ersten Aufgaben des Tages erledigt. Mit dem Start des Abenteuers an einen Sonntag war der Zeitdruck ohnehin nicht besonders groß. Zum Reinkommen aber gar nicht schlecht Das Vermeiden der Entscheidungen fiel so leicht, dass so viel Zeit blieb, dass die Lektüre schon fast am ersten Abend ausgelesen war.

Klarer Regelverstoß und gelbe Karte: Der Fernseher muss aus bleiben. Dafür ist das Schauen ohne Durchzappen eine echte Qual. Rudi Penk

Der zweite Tag: Es stellt sich die erste Routine ein. Die Vorbereitungen vor dem Gang zur Arbeit fallen weg. Ich kann mir doch etwas mehr Zeit lassen, bevor es mit gleicher Kleidung in Richtung Redaktion geht. Das Mittagessen schmeckt immer noch, ich komme gut über den Tag. Doch am Abend stellen sich die ersten Probleme ein: Die Tasse wird morgen gebraucht, das Shirt braucht auch einen Waschgang. Es geht Zeit von der Uhr. Das Buch ist schon am zweiten Abend ausgelesen.  

Der dritte Tag: Es gibt die ersten Blicke, Uneingeweihte bemerken das Auslassen des sonst gewohnten Klamottenwechsels. Dann wieder Tarte. Sie schmeckt doch etwas monotoner als an den Tagen zuvor, der Hunger treibt dann später auch das Vesper rein. Zu lesen gibt es nichts mehr. Für ein neues Buch braucht es eine Entscheidung. Ich verstoße gegen die Regeln, schaue fern. Auf das Durchzappen nach dem Anschalten des Fernsehers wird als Regelkompromiss verzichtet. Ich schaue mir das Programm an und langweile mich.

Die Stimmung kippt, der Neid greift um sich

Der letzte Tag: Die Klamotten nerven. Und schon beim Einpacken dieser langweiligen beiden Stückchen Tarte verspüre ich eine Unlust, diese später zu essen. So kommt es dann auch. Mehr als das Sättigungsgefühl stillt das nicht, von Genuss keine Spur mehr. Ich schaue neidisch auf die Teller der Kolleginnen und Kollegen. Ich ertappe mich dabei, an Essensideen für morgen zu denken, die ich dann frei auswählen kann. Dann der letzte Abend. Könnte ich mir jetzt doch ein Buch raussuchen oder doch einen Film schauen, wenn mir danach wäre.

Die Qual der Wahl ist manchmal besser, als gar keine zu haben. Die Vielfalt des Essens ist mir zu wichtig, Klamotten habe ich zwar sicherlich zu viele, aber mehr als ein Satz darf es dann doch sein. Und für spontane Entscheidungen (auch für kleine) muss Zeit bleiben. Ich werde versuchen, auf einige Entscheidungen zu verzichten, die mir nicht so wichtig sind. Aber auf welche?

Im letzten Teil unserer Serie begibt sich Kulturredakteur Manfred Kubiak in ein Land vor unserer Zeit.

Hier gibt es alle Teile der Serie "Mikroabenteuer" der Heidenheimer Zeitung zum Nachlesen.