Der einzig nüchterne Zeuge macht vor Gericht eine Kehrtwende
Was ist wirklich passiert ist in den frühen Morgenstunden des 26. Mai 2022? Dem Amtsgericht Heidenheim gelang es auch am zweiten Verhandlungstag nicht, das herausfinden.
Sicher ist, dass ein 49-Jähriger bei einer Kneipenschlägerei in der Heidenheimer Innenstadt schwere Verletzungen davontrug. Wer ihm diese zugefügt hat, konnte der Mann aber nicht sagen: „Ich war besoffen und habe keine Ahnung, wer das war“, sagte er vor Gericht aus.
Er beschrieb damit einen Zustand, in dem sich offenbar so ziemlich alle Personen im Lokal zu dieser Zeit befanden. Schon am ersten Verhandlungstag hatte es reichlich Erinnerungslücken bei Angeklagten und Zeugen gegeben, die mit Alkoholkonsum begründet wurden.
Geschädigter: hat die Angeklagten „noch nie gesehen“
Der Wirt habe gesagt, jetzt sei Feierabend und er habe eigentlich gehen wollen, erklärte der Geschädigte, der zugleich auch Nebenkläger und Zeuge war. Als Nächstes erinnere er sich, dass er im Krankenhaus aufgewacht sei. „Ich bin laut, wenn ich getrunken habe“, berichtete der Mann weiter, weil er so groß sei, könne es sein, dass das bedrohlich wirke. Er sei aber weder aggressiv gewesen, noch habe er jemanden beschimpft. Und er könne sich auch gar nicht erinnern, die beiden Angeklagten überhaupt schon mal gesehen zu haben.
Einer der beiden Angeklagten hatte am ersten Prozesstag angegeben, dass er von dem Mann im Vorfeld der Auseinandersetzung beleidigt worden sei.
Ein Zeuge, der zum ersten Verhandlungstermin nicht erschienen war, konnte nicht viel Erhellendes beitragen. Auch er berichtete von reichlich Alkoholkonsum, und dass es Geschrei gegeben habe. Dann seien auch schon zwei Männer am Boden gelegen und ein paar weitere, darunter der zweite Angeklagte, der Wirt und auch er selbst, hätten versucht, sie zu trennen.
Wegen Krankheit konnte der Wirt des Lokals bisher nicht vernommen werden. Mit der Aussage des zur Tatzeit einzig nüchternen Zeugen erhoffte man sich, nun endlich Licht ins Dunkel zu bringen. Bei der polizeilichen Vernehmung hatte der 67-Jährige ausführliche Angaben zu dem Vorfall gemacht, die zur Identifizierung der Täter und zur Anklage geführt hatten.
Wirt des Lokals: „Ich halte zu niemandem.“
Doch vor Gericht klang das plötzlich alles anders. „Ich halte zu niemandem“, betonte der Mann immer wieder, wenn er gefragt wurde, wie es zu der Schlägerei gekommen sei und wer angefangen habe. Während er zu Beginn der Vernehmung noch bestätigte, dass beide Angeklagte Kunden von ihm seien, wollte er einen der beiden plötzlich noch nie gesehen haben. Bei der polizeilichen Vernehmung hatte der Wirt ausgesagt, dass beide Angeklagten den Geschädigten verprügelt hätten, ihn schließlich sogar noch am Boden liegend getreten und den Kopf des Mannes auf den Fliesenboden geschlagen hätten.
„Jetzt kann ich mich an das Gesicht nicht erinnern“, ließ der Mann durch seine Dolmetscherin mitteilen. Richter Edler hakte nach, ob auf ihn wegen der Zeugenaussage Einfluss genommen worden sei. Bei der Polizei hatte der Mann angegeben, dass einer der beiden Angeklagten mehrfach zu ihm gekommen sei und gedroht habe, dass er keine Anzeige erstatten solle.
Der Zeuge schob das Missverständnis auf die schlechte Übersetzung bei der Vernehmung der Polizei. Bedrohung könne man das nicht nennen, erklärte er jetzt.
Staatsanwalt: ein „Eiertanz“ des Zeugen
Letztendlich gab es keine gesicherte Aussage, dass die beiden Angeklagten das Opfer verprügelt hätten. Einer der beiden Männer hatte von Anfang an gesagt, dass er gar nicht an der Schlägerei beteiligt gewesen sei. Das bestätigte auch einer der Zeugen. Der zweite Angeklagte hatte zugegeben, dass er mit dem Mann in Streit geraten sei, sich aber nur verteidigt habe.
Erster Staatsanwalt Horn regte an, dass er sich angesichts der Beweislage vorstellen könne, das Verfahren gegen beide Angeklagten einzustellen. Verteidiger Ferry Bilics und sein Mandant wollten dieses Angebot annehmen. Und auch Richter Edler sah dies als gerechtfertigt an. Unter Berücksichtigung der Tatprovokation sei das Verschulden des Angeklagten gering.
Verteidiger Jens Koch forderte für seinen Mandanten dagegen einen Freispruch. Auch das sah der Staatsanwalt als vertretbar an, da dem Angeklagten eine Beteiligung nicht nachgewiesen werden konnte. Der Wirt als „einziger nüchterner Zeuge“ habe „vor Gericht einen Eiertanz vollführt“. Auch der Vertreter der Nebenklage, Kai Fuhrmann, war der Meinung, dass die Aussagen für eine Verurteilung nicht ausreichend seinen. Richter Edler sprach den zweiten Angeklagten frei. Es sei fraglich, ob ohne die ursprünglichen Aussagen des Wirtes überhaupt ein Verfahren eröffnet worden wäre.