Peter Seydtle steht hinter der Theke und berät wie eh und je: „Der Ring ist zu klein, probieren sie mal den hier“, sagt er zu einer Kundin, die der Hinweis auf den Ausverkauf in den Laden gezogen hat. Die einen kommen, um noch ein Geschenk zu kaufen oder um die Batterie in der Uhr wechseln zu lassen, bevor die Türen für immer schließen. Andere wollen einfach nur Danke sagen: „Wir sind immer gerne zu Ihnen gekommen“, sagt eine Frau, die mit ihrer Freundin eigens zum Verabschieden in den Laden gekommen ist. „Wir sind ein bisschen traurig, aber können es auch verstehen“, sagt die Frau, reicht Peter Seydtle die Hand und wünscht alles Gute für die Zukunft.
Diese Zukunft liegt für Peter Seydtle in Dänemark. Ende des Monats schließt er den Laden, den es in Heidenheim seit 120 Jahren gibt. Die dann noch übrig gebliebenen Uhren wolle ein Kollege in Giengen übernehmen, erzählt er. „Das Haus wird verkauft, bis Juli muss ich ausgezogen sein“, erzählt der 75-Jährige. Von Wehmut ist in der Stimme keine Spur, obwohl Seydtles Leben tief mit seiner Geburtsstadt verbunden ist. Mit Ausnahme der Lehrzeit in Schwäbisch Gmünd zum Goldschmied lebte und arbeitete er in Heidenheim.
Eine schicksalhafte Begegnung auf Gran Canaria
Warum der Umzug nach Dänemark? Der Liebe wegen. Seine Partnerin sei Dänin, kennengelernt hätten sie sich 1974 auf Gran Canaria in einer Disco. In den 1990er Jahren sei seine Partnerin zu ihm nach Heidenheim gezogen, habe mit ihm in der Wohnung über dem Laden gewohnt. Nun sei es ihr Wunsch gewesen, jetzt wieder nach Dänemark zurückzukehren.
Für Seydtle ist das kein Umzug ins Unbekannte. „Ich fahre schon seit 50 Jahren dort hoch und kenne den Weg besser als das Navi, das manchmal falsch fahren würde.“ Die Partnerin habe eine Wohnung in Kopenhagen, doch sie wollten sich jetzt nach einem kleinen Haus in der Umgebung der dänischen Hauptstadt umsehen.
Es heißt ja, dass die Menschen im Norden glücklicher sind als hier.
Peter Seydtle, Goldschmied aus Heidenheim
Dass er als Schwabe mit der dänischen Mentalität klarkommen wird, daran zweifelt er nicht. „Es heißt ja, dass die Menschen im Norden glücklicher sind als hier“, sagt er. Verständigungsprobleme fürchtet er keine. Er verstehe Dänisch, unterhalte sich mit seiner Partnerin in dieser Sprache. Auch mit dem Hund, dem Yorkshire Terrier Lulu, spreche er nur dänisch. Ob der überhaupt schwäbisch versteht? „Ich weiß es nicht, ich habe es noch nie probiert.“
Wer durch den Laden geht, einen Blick in die kleine Werkstatt wirft oder in das hintere Gebäudeteil, das zur Hinteren Gasse gehört, dem kommt es ein wenig so vor, als habe jemand die Zeit angehalten. Wenige Werkzeuge erinnern daran, dass hier einst Handwerk betrieben wurde. Peter Seydtles Bruder war Uhrmachermeister, hatte sich auf alte Tisch- und Standuhren spezialisiert und viele davon wieder zum Ticken gebracht.
Als in den 1970er Jahren die Brüder das Heidenheimer Geschäft übernahmen
1972 hatte Peter Seydtle den Laden mit seinem elf Jahre älteren Bruder Karl-Dieter vom Vater übernommen und bis zum Tod des Bruders vor vier Jahren gemeinsam geführt. „Ich habe immer gerne gearbeitet“, sagt Seydtle, der anfangs noch eine Goldschmiedewerkstatt über den Laden hatte. Er änderte Ringe oder führte Reparaturen aus, aber dann konzentrierte er sich voll aufs Kundengeschäft. „Ich war lieber im Verkauf bei den Leuten.“ Den Namen Karl tragen übrigens alle Männer der Familie im Namen, auch wenn sich der 75-Jährige selbst Peter Seydtle nennt. Doch mit vollem Namen heißt er Klaus-Peter Karl Emil Seydtle, Karl und Emil sind die Namen der Großväter, womit auch das Namensrätsel geklärt ist.
Wenn der 75-Jährige am 31. Mai 2024 die Ladentüre ein letztes Mal abschließt, dann endet eine 120-jährige Firmengeschichte, die im September 1904 begann, als Großvater Karl Hermann Seydtle das Uhren- und Goldwarengeschäft gründete. Der Großvater starb 1928, da war der Vater erst 20 Jahre alt. Deshalb habe die Großmutter das Geschäft geführt, auch in der Zeit, als der Vater im Krieg war. „Das war eine richtige Geschäftsfrau“, erzählt Seydtle. Der erste Laden befand sich an der Bergstraße, später folgte der Umzug ins Gebäude an der Hauptstraße. Eine Zeitlang hatten die Seydtles in Heidenheim noch einen zweiten Standort an der Olgastraße 13, gleich neben dem Pressehaus. Zwei Läden in so kurzer Entfernung, gab der Heidenheimer Markt das her? „Damals gab es noch kein Internet“, so Seydtle. Heute kämen Kunden in den Laden, um das Armband der Uhr kürzen zu lassen, die sie im Internet gekauft hätten.
Bewaffneter Überfall auf den Heidenheimer Laden
Beim Revue passieren lassen überwiegen bei Seydtle die vielen positiven Erinnerungen. Ein einschneidendes Erlebnis wird Seydtle jedoch nie vergessen, als 1999 zwei bewaffnete Männer den Laden überfielen. Er sei gerade in den hinteren Bereich gegangen, als die zwei Männer kurz vor Ladenschluss in den Laden gekommen seien. Als er sich geweigert habe, Ware herauszurücken, habe ihm einer mit der Pistole an den Kopf geschlagen. Seydtle erlitt eine Platzwunde, die im Krankenhaus versorgt werden musste. Die Schwägerin habe den Krach gehört und sei in den Laden gekommen. Die Männer hätten sich ein paar Goldketten geschnappt und seien geflohen. Das Ereignis hat Seydtle gut weggesteckt. Er habe sich im Laden danach nicht unsicher gefühlt. „Ich bin kein ängstlicher Mensch.“
Auch jetzt hat er keine Angst vor der Veränderung, sondern verfolgt die weitere Entwicklung pragmatisch. Am Samstag, 18. Mai, habe er noch geöffnet, dann fahre er an Pfingsten für eine Woche nach Dänemark aus familiären Gründen. Am 27. Mai öffne er den Laden dann noch einmal für die letzten Tage. Der Kaufvertrag für das Haus sei noch nicht unterzeichnet, aber fest stehe, dass er im Juni ausziehen wird. Der Käufer wolle das Haus in ein Wohnhaus umbauen.
Das rote Dreieck war Erkennungszeichen
Ein rotes Dreieck steht über dem Schaufenster von der Wand ab und zeigt von Weitem, dass sich hier das Geschäft von Seydtle befindet. Das Dreieck ist das Warenzeichen der Uhrenmarke Dugena, die Seydtle im Sortiment hat und die ungefähr so alt wie das Geschäft ist. Früher befand sich in diesem Dreieck eine Uhr, doch wurde das Dreieck vor vier Jahren zerstört in der Nacht vor Heiligabend, beim Fest „Warten aufs Christkind“. Das Glas wurde repariert, die Uhr, die damals sogar noch funktionierte, wurde jedoch nicht mehr eingebaut.