Gedenken an Hitler-Attentäter

Deshalb ist es Heidenheims Bürgermeisterin Simone Maiwald wichtig, immer wieder an Georg Elser zu erinnern

Heidenheims Bürgermeisterin Simone Maiwald begründet im Interview, weshalb sie das stete Erinnern an den Hitler-Attentäter Georg Elser für unverzichtbar hält.

Haben Mahnungen ein Verfallsdatum? Wird Gedenken irgendwann zum gedankenlosen Ritual?
Nein, sagt Heidenheims Bürgermeisterin Simone Maiwald. Niemals.
Erinnerungskultur sei der spezifische Umgang einer Gemeinschaft mit der
Vergangenheit. Und aus der könnten nachfolgende Generationen lernen. Aus diesem
Grund hält sie es für geboten, so wie vor wenigen Tagen immer wieder an das
Attentat Georg Elsers auf Adolf Hitler zu erinnern. Und an die Folgen der Tat,
die am 8. November 1939 den Münchner Bürgerbräukeller erschütterte. Maiwald kam
erst 20 Jahre später zur Welt.

Frau Maiwald, sind Sie mutig?

Ja, ich halte mich für mutig. Es gibt einen Satz, der mich Zeit meines Lebens geprägt hat. Er stammt von meinem Vater, der sicherlich auch von seinen Erfahrungen aus der Nazizeit und aus dem Zweiten Weltkrieg beeinflusst war: Wer Unrecht zuschaut und dazu schweigt, der macht sich mitschuldig. Insofern gebe ich in vielen Bereichen nicht auf, mich zu Wort zu melden. Es muss nicht immer öffentlich sein. Wenn ich etwas sehe und höre, und ich halte es für falsch und für Unrecht, dann äußere ich mich dazu.

Erleichtert Ihre Einstellung es Ihnen, sich in Elser hineinzuversetzen? Denn Mut war sicher eine seiner hervorstechenden Eigenschaften.

Ich glaube schon. Ich bewundere ihn, denn er war sicher nicht der Einzige, der geahnt hat, dass sich da etwas in eine sehr negative und furchtbare Richtung entwickelt. Aber er war derjenige, der aus dieser Erkenntnis eine Konsequenz gezogen hat. Und ich gebe zu, dass ich mich immer wieder hinterfrage: Wäre ich auch dazu in der Lage und bereit, solche Konsequenzen zu ziehen? Man sollte sich grundsätzlich fragen: Wie hätte ich mich in dieser Zeit verhalten?

Gibt es Grenzen?

Mein Mut verlässt mich da, wo ich weiß, dass ich durch meine Familie, meinen Sohn, meine Enkel erpressbar wäre.

Welche wesentlichen Charakterzüge außer Mut sehen Sie bei Elser?

Er war verschwiegen. Er war sicherlich auch ausreichend misstrauisch anderen gegenüber. Er war reflektiert. Das hat man vielleicht einem Mann seiner Herkunft nicht zugetraut, aber möglicherweise hatte er deshalb etwas mehr Bewegungsspielraum bei den Vorbereitungen. Und er war sehr klar in seiner Entscheidung.

Trotz seines Muts hatte Elser bestimmt auch große Angst. Sie zu zeigen, kommt für viele in unserer Gesellschaft nicht infrage. Zweifel werden als peinliche Schwäche herabgewürdigt. Haben Sie manchmal Angst?

Selbstverständlich.

Wovor?

Schon auch vor den politischen Entwicklungen in Deutschland. Vor meiner Beobachtung, dass es zunehmend Persönlichkeiten gibt, die zutiefst undemokratisch agieren, die sich in den Vordergrund stellen und nicht die Gemeinschaft. Ich beobachte, dass man die Gemeinschaft aus dem Blick verliert und vergisst, dass man nur Teil eines Ganzen ist. Dass man das eigene Wohl in den Vordergrund stellt. Und ich sehe, dass die sozialen Medien da eine extrem erschreckende Rolle spielen, diesen Menschen eine Plattform zu geben, die man ihnen vor Ort vielleicht nicht geben würde.

Die Gesellschaft entwickelt sich in eine Richtung, in der sich viele Menschen nach einer Autorität sehnen. Und danach, dass da jemand ist, der sagt: Wir gehen in diese Richtung, und die ist richtig. Das entlastet natürlich vom eigenen Denken, aber es öffnet möglicherweise den Weg für Menschen, die so aufgestellt sind, wie es Hitler war.

War Ihnen Elser schon ein Begriff, ehe Sie nach Heidenheim kamen?

Ja.

Woher hatten Sie Ihr Wissen, und wie haben Sie es vertieft?

Ich habe mich schon immer mit diesem Thema beschäftigt. Meine erste Begegnung war eine Veranstaltung zur Reichspogromnacht vom 9. November 1938, die ich in Wuppertal konzipiert und mit der dortigen jüdischen Gemeinde abgestimmt habe. Damals war ich sprachlos, als mir der Vorsitzende der Gemeinde die Nummer aus dem KZ auf seinem Arm zeigte.

Das hat mich damals zutiefst berührt, aber auch wütend gemacht, weil ich mich dadurch nicht mehr frei fühlte im Handeln. Das war ein tiefer Einschnitt, den ich bis heute nicht vergessen habe. Und ich habe daraufhin sehr viel Literatur dazu gelesen.

Konnten Sie auch auf persönliche Schilderungen zurückgreifen?

Leider habe ich erst sehr spät die eigene Familie in den Blick genommen. Ich weiß nicht, warum es in meiner Generation grundsätzlich so eine Hemmschwelle gab, nachzufragen: Was war denn die Rolle des eigenen Vaters? Als mein Vater schon nicht mehr lebte, habe ich die Chance ergriffen und bin zu seinem 90-jährigen Bruder nach Hamburg gefahren. Zusammen mit meinem Sohn.

Was haben Sie dort erfahren?

Ich war in vielerlei Hinsicht beruhigt und habe auch begriffen, warum ich so bin, wie ich bin. Sehr stolz bin ich darauf, dass mein Vater aus der Hitlerjugend ausgetreten ist und nicht in der Partei war, deshalb allerdings als Student während der Kriegszeit auch keine Karriere gemacht hat. Dadurch kann ich mich ein Stück weit freier mit diesem Thema beschäftigen.

Nachdem ich nach Heidenheim gekommen war, setzte ich mich sehr schnell mit der Georg-Elser-Gedenkstätte in Königsbronn in Verbindung. Ich bekam ausführliches Material und habe es Stück für Stück gelesen.

Wie bereiten Sie sich auf Ihre Ansprachen vor?

Ich freue mich jedes Mal, wenn ich die Gelegenheit dazu bekomme. Eigentlich bereite ich mich das ganze Jahr über vor. Das Thema Elser, Widerspruch, Kampf für Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie begleitet mich ständig. Ich lese viel, und in diesem Jahr hat es mir Freude gemacht, dass wir zwei weitere hervorragende Veranstaltungen zu dem Thema hatten. Ich bin sehr der Gruppierung „Omas gegen rechts“ zugeneigt, und wenn ich nicht mehr im Amt bin, werde ich mich ihr anschließen.

Ist die traditionelle Gedenkstunde zu Ehren Elsers Pflicht oder Kür für Sie?

Sie ist Kür für mich. Und ein extrem wichtiges Anliegen. Denn ich gehöre zu den ganz wenigen, die eine Chance haben, etwas an diesem Tag sagen zu dürfen, der sehr eng auch mit dem 9. November verknüpft ist.

Beschleicht Sie manchmal das Gefühl, mit Ihren Appellen immer die Gleichen zu erreichen, relativ wenige dazu?

Sie haben recht, es sind meist dieselben Personen. Ich würde mich freuen, wenn auch andere dazukämen. Allerdings lässt sich feststellen, dass es in den vergangenen Jahren mehr geworden sind. Ich freue mich sehr, dass die Hirscheckschule jedes Mal dabei ist. Auch wenn es vielleicht „nur“ zehn Schüler sind, die sich mit diesem Thema beschäftigen, ist mir das extrem wichtig. Zumal es vielleicht auch Schüler sind, die einen Migrationshintergrund haben und natürlich unsere deutsche Vergangenheit nicht so nachvollziehen können. Aber sie können sensibilisiert werden, wie wichtig eine Demokratie ist.

Sie haben in diesem Jahr vergleichsweise wenig zur Biografie Elsers gesagt.

Bewusst. Weil sein Leben den Anwesenden hinreichend bekannt war. Deshalb war es mir in diesem Fall wichtiger, auf aktuelle Entwicklungen hinzuweisen. Der Schritt aus der Vergangenheit in die Aktualität ist mir grundsätzlich besonders wichtig. Ich bin übrigens der Meinung, dass eine solche Veranstaltung nie parteipolitisch vereinnahmt werden sollte. Ich sehe sie als Mahnung, dass die Bedrohung der Demokratie nicht vorbei ist.

Wir müssen uns solchen Entwicklungen immer entgegenstellen. Deshalb fand ich diesmal sehr berührend, was die Schulklasse der Hirscheckschule gemacht hat. Sie hat bei mir etwas angesprochen, nämlich die Rolle der Mütter ihren Söhnen gegenüber.

War Elser ein Held?

Ich glaube, er war in dem Sinne ein Held, dass er wusste, vermutlich entdeckt zu werden, und sich wenige Gedanken um die Zeit danach machte. Seine Flucht war ja nicht wirklich durchgeplant. Und er war ein Held, weil er den Mut hatte, das alleine zu machen.

Elsers Tat birgt trotz guter Absichten auch negative Aspekte: Bei dem Bombenanschlag im Bürgerbräukeller starben unschuldige Menschen. Wie gehen Sie damit um?

Dass es um ein Menschenleben ging, und er dabei andere Leben gefährdete, ist ein riesiges Dilemma, in dem er mit Sicherheit gestanden hat. Ich habe auch keine wirklich kluge Antwort darauf. Aber Elser hat gespürt, dass die Nazis zu allem bereit waren, und vermutlich war sein Druck so groß, dass er den Schritt gewagt hat. Ich bin da sehr gespalten und werde das wahrscheinlich für immer bleiben.

Jeder Aspekt der Tat Elsers ist mittlerweile erforscht, durchleuchtet, hinterfragt, interpretiert. Ist irgendwann einmal alles gesagt, die Erinnerungskultur folglich am Ende?

Niemals! Wir können aus der Vergangenheit lernen. Sie ist so erschreckend, dass wir daraus lernen müssen. Entscheidend ist, dass wir Erkenntnisse aktualisieren und auf Entwicklungen hinweisen. Wenn wir in der Vergangenheit verhaftet bleiben und nur über Elser und sein Leben sprechen, dann weiß ich nicht, ob der Schritt gelingt, daraus zu lernen.

Elser war gezwungenermaßen sehr verschwiegen. Zum einen, um sein eigenes Entdeckungsrisiko zu minimieren. Zum anderen, weil er niemanden zum Mitwisser machen und dadurch in Gefahr bringen wollte. Heute marschieren Menschen, ausgestattet mit den Segnungen der Demokratie, durch die Straßen unserer Stadt und beklagen paradoxerweise, ihre Meinung nicht kundtun zu dürfen. Wie bewerten sie das?

Worum geht es diesen Menschen? Aus meiner Sicht darum, jeden Montag uns vorzuführen, wie schwach ein demokratischer Staat ist, weil er genau diese Dinge zulässt. Ich halte das für einen ziemlich heftigen Missbrauch der Demokratie. Da werden die Fakten verdreht. Da werden bewusst Feindbilder aufgebaut.

Sie nutzen die Demokratie vollständig aus, und im gleichen Zug machen sie sich zum Opfer. Und den demokratischen Staat, der zulässt, dass sie jeden Montag den Verkehr behindern, machen sie zum Täter. Ich habe dafür überhaupt kein Verständnis. Am Anfang habe ich versucht, in ein ernsthaftes Gespräch zu kommen. Und mein Eindruck war, dass das nicht gewollt ist.

Sehen Sie – losgelöst von diesem speziellen Fall – unsere Demokratie in Gefahr?

Ja, ich sehe unsere Demokratie in Gefahr. Wir haben demnächst Bundestagswahlen. Ich bin gespannt, ob sich da auch eine Tendenz abzeichnet.

Lassen Sie uns zum Schluss zu Elser zurückkehren. Wenn es möglich wäre: Was würden Sie ihm gerne sagen?

Ich würde mich für den Mut und diesen für ihn ja schrecklichen Weg bedanken.

Und was würden Sie ihn fragen?

Welche Einschätzung er hatte für die folgenden Jahre. Und warum er nicht seinem Schritt entsprechend einen Fluchtweg vorbereitet hat.

Kultur als Schwerpunkt

Simone Maiwald (65) wurde in Münster geboren. Sie studierte Musik und Romanistik. Zu ihren beruflichen Stationen gehören das Kulturreferat der Stadt Wuppertal, der Fachbereich Kultur, Sport, Jugend und Fremdenverkehr in Rottweil sowie das von ihr geleitete Kulturamt in Gießen. Seit Juni 2018 ist Maiwald Bürgermeisterin in Heidenheim.

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