Charakterfrage im Museum

Neue Ausstellungen im Heidenheimer Kunstmuseum: Drauftreten oder nicht drauftreten?

Zwei neue Ausstellungen im Heidenheimer Kunstmuseum beschäftigen sich ab Samstag mit Salz und Zucker in der Kunst beziehungsweise mit den Hinterlassenschaften einer Paranoia.

Salz und Zucker? Kennt jeder. Heutzutage ist das Zeug bei uns so alltäglich, dass man kaum Gedanken daran verschwendet. Und wenn, dann sind die wahrscheinlich gesundheitlicher Natur. Weniger wäre dann mehr beziehungsweise besser.

Das war auch schon mal ganz anders. Und ums Salz wurden Kriege geführt und für Zucker Menschen versklavt. Auch das spielt mit hinein in eine Ausstellung, die am Samstag im Kunstmuseum in Heidenheim eröffnet wird.

Wie, echt jetzt? Salz und Zucker im Kunstmuseum? Tatsächlich: Salz und Zucker im Kunstmuseum. „Kristallisationspunkte“ lautet der Titel der Schau. Und der Untertitel nennt das Thema beim Namen: „Salz und Zucker in der Kunst“. Das klingt spannend. Und ehe man sich’s versieht, stellt sich auch schon die Charakterfrage. Denn gleich hinter der Tür im oberen Ausstellungssaal träte der Besucher, wenn er denn nur ein, zwei Schritte geradeaus weiterginge, auf ein Kunstwerk. Oder besser: in ein Kunstwerk. Jedenfalls sieht er, der Besucher, oder sie, die Besucherin, Sterne.

Die Charakterfrage

Viele, viele, viele weiße Sterne. Auf den ersten Blick jedenfalls. Wenn man genauer hinschaut und der Intention der Künstlerin folgt, sieht man statt eines Sterns eher zwei Münder. Einmal sind dabei die Mundwinkel nach oben, einmal nach unten gezogen. Denn als Schleckerei mag Zucker eine Lust sein, im Übermaß genossen kann es indes zur Last werden. Und selbst Zuckeraustauschstoffe sollen ja nicht immer ganz geheuer sein. Auch daran mag man denken, wenn man hört, dass Christine Brauns Münder allesamt mit Hilfe von Isomalt auf den Museumsboden hingezuckert sind.

Der Rhythmus von Heidenheim: Patricija Gilytes Stadtansicht aus Würfelzuckerstücken. Dennis Straub

Doch das allein bringt uns noch nicht in die Bredouille. Das alles kommt erst jetzt. Denn die Gretchenfrage lautet: Wie hältst Du’s mit der Kunst? Trittst Du sie vielleicht sogar mit Füßen, wenn Du darfst? Denn ob man es glauben will oder nicht: Man kann die Installation von Christine Braun betreten. Anders formuliert: Man darf, man muss aber nicht. Man kann auch darum herumgehen, so wie man das bei Kunst normalerweise tut.

Vierzehn Künstler

Auf der anderen Seite aber könnte auch jemand, nur so zum Beispiel, ein paar Meter knirschend im Kreis durch das Werk schreiten oder es, in nur wenigen Sekunden, zu einem Haufen Isomalt zusammenkehren. Oder aber, nicht zuletzt auch aus Ehrfurcht vor den dreißig Stunden Handarbeit der Künstlerin auf Knien, an der Kunst entlanggehen und das Werk unangetastet lassen. Was wird wohl passieren? Auch Marco Hompes fragt sich das. „Ich bin sehr gespannt“, sagt der Museumsdirektor. Nicht nur er.

In Salz konserviert: aus Kees de Vries' Serie "Covered in Beauty".

Gespannt sein darf man auf alles, was einem begegnen wird, denn einmal mehr wird Heidenheims Kunstmuseum zu einer Wundertüte voller Überraschungen, Inspirationen, Suggestionen. Zeit für Gedankengänge, diesmal in Zucker und Salz. Denn die Ausstellung vereint Boden- und Wandarbeiten, Performances, Fotografien, Installationen, Skulpturen und Videos von vierzehn Künstlerinnen und Künstlern.

Heidenheims Rhythmus

Thematisch, erklärt Marco Hompes, gliedert sich die Schau in zwei Bereiche: Auf der einen Seite werden Salz und Zucker hinsichtlich ihrer bildnerischen Qualitäten untersucht, denn in Wasser gelöst, gepresst, gebrannt, gebacken, gefärbt oder als rieselnde Masse können sie unterschiedliche Formen annehmen und bildhauerische Fragen verhandeln. Auf der anderen Seite wiederum sollen in der Schau auch die symbolischen und politischen Implikationen hervorgehoben werden. So ist Salz zwar lebensnotwendig, kann aber auch lebensfeindlich sein oder werden. Zucker hingegen verwies und verweist – unter anderem und heute in einem etwas gewandelten Wortsinnen als damals –, gleichzeitig auf Genuss und Gier.

Es gibt auf alle Fälle viel zu sehen. Und es fängt, nachdem man einmal drin ist im Kunstmuseum, etwa mit Patricija Gilytes in braunem und weißem Würfelzucker gehaltener Heidenheimer Stadtansicht an. Wobei es sich bei dieser nicht um eine Ansicht handelt, wie man sie gewohnt wäre. Der in München lebenden Litauerin kommt es bei ihrer großformatigen Wandinstallation eher auf die Interpretation einer Stadt an, in die die Architektur eines Ortes ebenso mit hineinfließt wie die Baumaterialien oder die Menschen eines Ortes. Von Heidenheim, das sich Patricija Gilyte mehrere Tage lang ganz genau angesehen hat, ist sie übrigens regelrecht beschwingt: „Ich bin vom Rhythmus der Stadt begeistert.“

Konserviertes Wissen: Takaya Fujiis Bücher in Salz. Dennis Straub

Albanische Angst

So fängt das an im ersten Stock des Kunstmuseums. Und es ist dort mit Johanna Strobels mächtigen sechs Salzfäusten, die, jede siebzehn Kilogramm schwer und wie Pendel von der Decke hängend, noch lange, lange nicht zu Ende. Hierbei geht’s unter anderem um Wandel und Zeit, Jetzt und Ewigkeit, denn die revolutionär geballten Fäuste knallen ab und zu gegeneinander, wobei die Salzhülle nach und nach bricht und so langsam ein anders geartetes, ganz und gar salzfreies Innenleben sichtbar wird.

Geht man nun vom oberen Stockwerk des Hauses treppab in dessen Parterre und rückt gleichzeitig von Z wie Zucker vom Ende des Alphabets bis ganz nach vorn zum A, gelangt man im Kunstmuseum schnurstracks nach Albanien. „Remains of Paranoia“ heißt die Schau mit dokumentarischen Fotografien des gebürtigen Heidenheimers Alfred Diebold. Die hat, auch wenn Albanien mit einer langen Küstenlinie aufwarten kann, nichts mit Meersalz zu tun, sondern, wie es der englische Titel der Präsentation besagt, mit den Hinterlassenschaften einer Paranoia.

"Remains of Paranoia": Luftwaffenstützpunkt Kuçovë, Albanien. Alfred Diebold

Man ist nicht mehr ganz jung, wenn einem der Name Enver Hoxha etwas sagt. Der war einmal der diktatorische Herrscher der Sozialistischen Volksrepublik Albanien, einem in Isolation und Furcht gehaltenen Mittelmeerstaat, über den man hierzulande meist belustigt raunte. Enver Hoxha jedenfalls beschäftigte sich und sein Volk mit der von der Staatspropaganda auf großer Flamme am Leben gehaltenen ständigen Angst vor Angriffen ausländischer Großmächte oder der Nachbarstaaten. Das führte dazu, dass, neben zum Teil unterirdisch angelegten Militärbasen für Luft- und Seestreitkräfte, vor allem in den 1970er Jahren in Albanien zum Beispiel mehrere hunderttausend Bunker gebaut wurden. Die Kosten für diese Abwehrversicherungen in Beton ruinierten letztendlich das Land – und verschandeln bis zum heutigen Tag die Landschaft.

Das Erbe der Paranoia

Alfred Diebold, der Albanien auch als Leiter der dortigen Vertretung der Friedrich-Ebert-Stiftung kennenlernte, zeigt mit seinen Fotografien diese Hinterlassenschaften einer Paranoia und möchte mit ihnen und mit Karten und Erläuterungen zur Geschichte, zu einem besseren Verständnis der albanischen Vergangenheit, aber auch für die Folgen einer militärischen Aufrüstung beitragen.

Die Fotos sind vor etwa zehn Jahren entstanden, doch erscheinen sie, jetzt und heute betrachtet, also in einer Zeit, deren neue Währung die Angst ist und in der etwa das Wort Krieg immer öfter und in immer mehr Zusammenhängen im Mund geführt wird, mit jedem Tag aktueller. In einem Fall erwies sich die Hinterlassenschaft der Paranoia sogar als, wenn man so will, willkommenes Erbstück für Feinde von einst, die heute Freunde sind: Der heruntergekommene Militärflugplatz Kuçovë, den Alfred Diebold noch mit vor sich hin rostenden Kampfjets alter chinesischer Baureihen fotografiert hat, steht seit kurzer Zeit als Nato-Luftwaffenstützpunkt wieder in voller Blüte.

Vernissage plus Performance

Eröffnet werden die beiden neuen Ausstellungen im Kunstmuseum am Samstag um 17 Uhr. Im Rahmen der Vernissage wird man auch eine Performance des Künstlers Fadi al-Hamwi erleben können.

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