Die Durchsage ertönt: „Wir bitten nun alle Gäste, das Besteck zur Seite zu legen, kurz innezuhalten und die 12-Uhr-Glocke zu hören. Danach folgt das Mittagsgebet.“ Schlagartig wird es ruhiger und nur wenige Sekunden später ist es mucksmäuschenstill. Keine Gespräche, kein Lachen und kein klapperndes Geschirr mehr. Bis auf die Kirchenglocke, die durch das Gewölbe der Pauluskirche hallt, ist nichts mehr zu hören. Eine friedliche und beruhigende Atmosphäre breitet sich aus. Auch Helferinnen und Helfer, die für das leibliche Wohl sorgen, nehmen auf den Kirchenbänken Platz und stellen für einen Moment ihre Arbeit ein.
Dann wird das Gebet gesprochen. Auch die Worte erfüllen das Innere der Kirche und klingen schallend nach. Da ich auf einer Bank an der Seite sitze, kann ich das Geschehen weiträumig sehen. Nach dem „Amen“ beginnen sich die Gäste der Heidenheimer Vesperkirche wieder in die Gespräche zu vertiefen und die Ehrenamtlichen nehmen alle ihre Posten wieder ein. Weiter geht’s.
Von Volontärin zur ehrenamtlichen Mitarbeiterin
Seit dem 14. Januar können Gäste der Vesperkirche in der Heidenheimer Pauluskirche zu Mittag essen. Anschließend gibt es noch Kaffee und Kuchen. Als Volontäre der Heidenheimer Zeitung haben wir das Privileg, diese Veranstaltung für einen Tag mitzuerleben. Nicht als Gast, sondern als Unterstützung für die ehrenamtlichen Mitarbeiter.
Schon auf dem Weg zur Kirche treffen wir viele Menschen. Wie sich im Nachhinein herausstellt, viele ebenfalls auf dem Weg zu ihrer Arbeitsschicht. In der Kirche versammeln sich alle auf der Empore, von der es einen wunderbaren Blick über das Innere der Kirche gibt. Die Tische sind schon passend gedeckt, damit später genügend Gäste einen Platz finden. Nach einem kurzen „Hallo“ da und einem „ah, was machst du denn hier?“ dort, beginnt Inge Hackel, die seit zwei Jahren dem Leitungsteam der Vesperkirche angehört, mit einer kleinen Begrüßung.
Sie geht die Anwesenheitsliste durch, bespricht die Schichtpläne und legt die jeweiligen Schichtleiter fest. Für mich geht es an diesem Tag zur Essensausgabe, mein Kollege übernimmt den Service, das heißt, er wird den Gästen das Essen und Trinken an die Tische bringen. Mit einem kurzen Blick in unsere Richtung und den Worten „ihr zwei kommt aber nachher bitte erstmal zu mir“, macht uns Hackel deutlich, dass wir nicht einfach so ins kalte Wasser geworfen werden. Gott sei Dank. Macht man ja jetzt auch nicht alle Tage.
Mit einer kleinen Geschichte und abschließenden Worten an Gott gerichtet, werden die Mitarbeiter in eine hoffentlich erfolgreiche Schicht geschickt. Für uns zwei heißt es: kleine Lagebesprechung. Ganz kurz bekommen wir nochmal erklärt, was unsere Aufgaben sind und werden über die Hygiene informiert. Dann trennen sich unsere Wege.
Wie alles begann
Seinen Ursprung hat das Konzept der Vesperkirche in Stuttgart. 1995 hat dort, von Pfarrer Martin Fritz initiiert, in der Leonhardskirche die erste Vesperkirche stattgefunden. Der Grundgedanke in Stuttgart bestand darin, Obdachlosen, Drogenabhängigen und Prostituierten zu helfen. Auch heute noch soll mit der Vesperkirche bedürftigen Menschen etwas Gutes getan werden. Zum Essen kommen kann aber jeder. „Das Schöne ist einfach, dass Jung, Alt, Arm und Reich an einem Tisch sitzen und sich einfach unterhalten. Wenn die Vesperkirche zu Ende geht, kommt es auch nicht selten vor, dass Tränen verdrückt werden. Die Leute sind teilweise richtig traurig, dass sie jetzt beim Essen wieder alleine am Tisch sitzen müssen“, erzählt Inge Hackel.
Nach Heidenheim sei die Vesperkirche schlussendlich 2010 durch Dr. Ulrike Hurler gekommen, die im Sommer 2022 verstorben ist. „Die Gedanken an diese Veranstaltung waren auch schon auf der evangelischen Seite vertreten, da Dr. Hurler aber katholisch war, ist es jetzt eine ökumenische Vesperkirche. Sie wird auch in einem evangelischen Gotteshaus ausgetragen“, so Hackel.
Alle Spenden zu Gunsten der Vesperkirche
Jedem Gast ist es selbst überlassen, wie viel er für sein Essen zahlen möchte. Mit den Einnahmen der drei Wochen werden die Kosten der Vesperkirche gedeckt. Täglich seien es zwischen 40 und 50 Mitarbeiter, die das Konzept vor Ort unterstützen. Alleine im Service arbeiten schon 18 Ehrenamtliche, erklärt Isolde Barwig-Haag, die auch zum Team gehört. Im Hintergrund laufe allerdings noch wesentlich mehr ab.
In einem Spülwagen hinter der Kirche wird das komplette Geschirr von drei Damen gewaschen. An einem Tag können es bis zu 85 Spülmaschinengänge werden. Der Kuchen, den es zum Kaffee gibt, muss jeden Morgen beim Bäcker geholt werden. Teilweise wird er auch von helfenden Händen selbst gebacken. „Wir sind sehr dankbar, dass sich Freiwillige dazu bereit erklären, für uns zu backen und wir freuen uns über jede Helferin und jeden Helfer, der vielleicht im nächsten Jahr auch etwas backen möchte“, sagt Hackel.
In diesem Jahr kommen in den Wochen der Vesperkirche jeden Donnerstag zwei Friseurinnen, um den bedürftigen Gästen die Haare zu schneiden. Dafür müssen sie die Kirche nicht mal verlassen, sondern nur einen Stock nach oben laufen. Auch Fußpflege stand in diesem Jahr einmal auf dem Programm der Vesperkirche.
25 unterschiedliche Musikeinlagen
Schon im Vorfeld wurden wir darüber informiert, dass es zur Mittagszeit nochmal zu einer Arbeitsunterbrechung kommen wird. Jeden Tag, also insgesamt 25 Tage, gibt es eine andere musikalische Einlage. Das bedeutet auch, dass 25 verschiedene Künstler, Chöre und Instrumente organisiert werden müssen. Wir hören die Sängerin Yana Barkhatova, die ihre glasklare Stimme durch die Kirche hallen lässt. Begleitet wird sie am Klavier von Maddalena Ernst. Für die Gesangspause herrscht in der Kirche wieder absolute Ruhe. Jeder respektiert die Künstlerinnen, hält inne und lauscht den Klängen des Gesangs und des Klaviers.
Damit all die Dinge reibungslos und gut organisiert stattfinden können, gehört viel Planung dazu. In diesem Jahr teilen sich Inge Hackel und Helmut Oettinger die Tagesleitungen. „Alban Allger, der auch zu unserem Leitungsteam gehört, hat im Vorfeld die ganzen Schichtpläne erstellt. Bedauerlicherweise ist er für die Zeit der Veranstaltung krank geworden“, erklärt Hackel. Dem Leitungsteam gehören außerdem noch Pfarrerin Almuth Kummer, Günter Glock, Brigitte Hittelmaier, Helga Viola und Patrick Rodriguez an.
Ran an den Soßenschöpfer
Jetzt gilt’s aber. Im Bereich der Essensausgabe angekommen, verschafft sich jeder erstmal einen kurzen Überblick. Das Essen wird in der Küche des Heidenheimer Klinikums zubereitet. Die Kollegen, die das Essen abholen, sind schon vor einer Weile aufgebrochen und können jeden Augenblick mit den Behältern zurückkommen. Da gilt es vorbereitet zu sein und das Essen direkt an Ort und Stelle zu bringen. Insgesamt gibt es fünf Essensbehältnisse, die nach der Ankunft der Essenslieferung mit Rinderschmorbraten, Spätzle, Gemüse, Soße und Gemüseauflauf befüllt werden. Ganz am Ende der Reihe steht noch ein großes Gefäß mit Bohnensalat. Jedes Essen muss für die Ausgabe separat besetzt werden, damit sich kein Rückstau bilden kann. Zu jeder Mahlzeit wird ein Musterteller mitgeliefert, damit wir wissen, wie das Essen serviert werden soll.
Es ist kurz vor halb 12. Essen gibt es offiziell ab 11.30 Uhr. Die ersten Mitarbeiter aus dem Service beginnen, sich vor der Essensausgabe in einer Reihe aufzustellen. Noch ein letzter Check, ob jeder weiß, was zu tun ist und da klingt auch schon die Stimme von Inge Hackel durch die Gemäuer. Die Vesperkirche ist eröffnet und das Schöpfen kann losgehen. Erst Fleisch, dann Spätzle, noch ein Häufchen Gemüse und zum Schluss kommt die Soße darüber. Wer kein Fleisch möchte, darf sich an der Reihe vorbeischleichen und direkt zum Gemüseauflauf kommen. Plötzlich ertönt eine Stimme neben mir. „Wenn Sie vor dem Schöpfen nochmal kurz in der Soße innehalten, dann tropft das auch nicht so beim Ausschenken“, sagt meine Teamleiterin. „Und kleiner Tipp: Soße nur übers Fleisch und nicht über die Spätzle, das machen nur die Schwaben so.“ Schon wieder was dazugelernt.
Die Essensausgabe geht bis 13.30 Uhr. Das reicht auch. Denn sowohl von der Soße als auch von den anderen Speisen ist, trotz Nachbestellung, zu diesem Zeitpunkt fast nichts mehr da. Weggeschmissen wird allerdings nichts. Die angefangenen Spätzle werden in Tüten verpackt und dürfen von den Mitarbeitern mit nach Hause genommen werden. Die Speisen, die noch eine größere Menge abgeben, werden an die Caritas-Wohnungslosenhilfe in Heidenheim geliefert und an Bedürftige ausgegeben.
Mit einem letzten Wisch über den Tisch und dem Abgeben von Schürze und Namensschild kommt unser Einsatz zum Ende. Mit einem guten Gefühl, für Menschen dagewesen zu sein und gesehen zu haben, wie wichtig es ist, in Gesellschaft zu sein, geht unsere Arbeit jetzt in der Redaktion weiter.
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