Der Zufall hat kräftig mitgemischt, dass das Chorwerk „Epitaph“ im Programm des Jungen Kammerchors für sein Konzert „Libera me“ gelandet ist. Weil das Konzert im Einklang steht mit dem Europäischen Festival Kirchenmusik, beschlossen die Chorleiter Maddalena Ernst und Thomas Baur darin Auftragswerke zu präsentieren. Und Maddalena Ernst rief bei Kamil Shuaiev, Komponist aus Charkiw in der Ukraine und derzeit in Heidenheim, an und fragte nach, ob er dafür gewonnen werden könne. Und hier der Zufall: Kamil Shuaiev sagte nicht nur zu, sondern auch, dass er ohnehin gerade dabei sei, für den Jungen Kammerchor zu komponieren. Zu einem Viertel sei das Werk bereits fertiggestellt.
Und das kam so: Shuaiev hatte den Jungen Kammerchor Ostwürttemberg bei einem Konzert im Konzerthaus gehört und war tief beeindruckt davon, wie diese jungen Stimmen komplizierte Werke exakt umzusetzen in der Lage waren. Mehr noch: Er war inspiriert und er hatte die Idee, genau für diesen Chor etwas zu komponieren. Gedacht, getan: Tief unter dem Eindruck des Konzerts, intensiviert durch den Genuss weiterer auf YouTube zu findender Auftritte des Chores macht er sich ans Werk, aus purer Anregung, ohne Absicht oder Plan, dass dieses Stück jemals zur Aufführung kommen sollte. Und dann kam Maddalena Ernsts Anruf – und eines fügte sich zum anderen.
„Ein Satz wie ein Hammer“
Mittlerweile sind die jungen Sängerinnen und Sänger bereits in der Endphase, Shuaievs Komposition mit dem Titel „Epitaph“ umzusetzen. „Das ist mal etwas ganz anderes“, so ihre Beschreibung, „so ganz ohne Worte, das ist schon herausfordernd“. Ganz ohne Worte? Nicht ganz: „Und dann kommt plötzlich dieser Satz wie ein Hammer“, benennen sie ihren Eindruck. Gemeint ist der Satz „Bella matribus detestata“, auf Deutsch etwa „Krieg, der Schrecken der Mütter“. Das Zitat von Horaz hatte Kamil Shuaiev eigens ausgewählt, um dem ansonsten lediglich aus Vokalisen bestehenden Gesang noch eine eindringliche Botschaft mitzugeben.
Und das ist aufgegangen: Der Satz, mehrfach in unterschiedlichen Emotionen und Lautstärken folgend, wirkt buchstäblich wie ein Aufrütteln, wie ein nicht zu ignorierender Anstoß, für Gedanken und Herz gleichermaßen. Dies wirkt umso mehr, als der Satz eingebettet ist in Laute, die die unterschiedlichsten Emotionen zum Ausdruck bringen: Es ist Shuaievs Weg, die Bilder aus der Ukraine, zerstörte Gebäude, verletzte Menschen, Leichen, Trauer und Schmerz in Musik umzusetzen und zugleich der Welt die Schrecken des Krieges vor Augen zu führen. So begegnen dem Zuhörer in der Komposition Herzschläge, die langsamer werden und schließlich aussetzen, neben einem fast körperlich zu spürenden Schmerz und greifbarer Angst. Wehklagen klingt darin ebenso an wie ein Schlaflied und auch für die Freude ist Raum in diesem Werk: die Freude darüber, wenn einst wieder Lebensfreude zurückkehren darf. Diese Emotionen vermitteln sich auch ohne Worte, und genau das war die Absicht Shuaievs: „Es soll auf der ganzen Welt verstanden werden können“.
Zeitübergreifende Gültigkeit
„Das ist gar nicht so leicht umzusetzen“, erzählt Maddalena Ernst, und sie meint damit die verschiedenen Emotionen, denen die Sängerinnen und Sänger nachspüren müssen, aber auch die diversen Laute und Klänge, die umzusetzen sind. „Worte sind da oft einfacher zu singen, als wenn der genaue Laut herauszufinden ist“. Da war die Unterstützung durch den Komponisten selbst Gold wert – und dabei wiederum die Übersetzungsdienste von Konstantin Tkatschow, der immer da simultan dolmetschte, wenn die besonderen Beschreibungen von Kamil Shuaiev über die internationalen musikalischen Fachbegriffe hinausgingen. Denn schließlich soll die Musik auch mit Inhalt und Gefühl gefüllt werden. Ein Anspruch, dem sich die Sängerinnen und Sänger gerne stellen: „Sie alle mögen das Neue, gehen es offen und interessiert an und singen gerne aus verschiedenen Epochen“, so Maddalena Ernst.
Apropos Epochen: Deren unterschiedliche Stile lässt Kamil Shuaiev in „Epitaph“ anklingen, um damit, wie er sagt, der Anti-Kriegs-Aussage eine allgemeine und zeitübergreifende Gültigkeit zu unterlegen. Auch das sorgt für Ergriffenheit – beim Zuhören auf jeden Fall, aber auch, wie zu hören war, bei Sängerinnen und Sängern. Und das gilt sicher ganz besonders für den 18-jährigen Filatov Fedir, der vor zwei Jahren aus der Ukraine nach Heidenheim kam und beim Jungen Kammerchor Ostwürttemberg mitsingt. Für ihn sind die Emotionen und Bilder, die in „Epitaph“ stecken, die sich seine Mitsängerinnen und Mitsänger vorstellen müssen, Erinnerungen.
Die Termine von „Libera me“
Zu erleben sein wird „Epitaph“ beim Konzert „Libera me“ des Jungen Kammerchors, das am Freitag, 2. August, beim Nachtkonzert des Festivals Europäische Kirchenmusik in Schwäbisch Gmünd erstmals aufgeführt werden wird. Weitere Aufführungen finden statt am Samstag, 3. August, um 19 Uhr in der St. Johannes Baptist-Kirche in Dischingen, am Sonntag, 4. August, um 17 Uhr in der Evang. Stadtkirche in Ellwangen sowie am Samstag, 10. August, 19 Uhr in der Pauluskirche Heidenheim
Neben „Epitaph“ werden auch Werke von Poulenc, Palestrina, Friedrich Silcher und mehr zu hören sein. Und auch Chorleiter Thomas Baur, der den zweiten Teil des Konzerts bestreiten wird, hat eine Auftragsarbeit in petto: Komponist Wolfram Buchenberg, dessen Motette „Ich bin das Brot des Lebens“ beim Deutschlandbesuch von Papst Benedikt gesungen wurde, hat sich ebenfalls vom Thema „Freiheit“ inspirieren lassen. Und dann geht's gen Süden: In Lugano und Malcesine wird „Libera Me“ ebenfalls erklingen.