"Europa ist Ziel Russlands hybrider Kriegsführung"
Vergangene Woche reiste der Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter zum fünften Mal seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022 in die Ukraine. Neben Kiew ging es dieses Mal auch nach Odessa, in die Hafenstadt, die zuletzt massiven Angriffen ausgesetzt war. Ziel der Reise war es neben einem Überblick über Bedarfe und den Stand der Befreiungsoffensive zugleich ein Zeichen der Solidarität und Dankbarkeit für die Ukraine zu übermitteln. „Obwohl ganz Europa Kriegsziel Russlands ist, ist es nur die Ukraine, die massive Opfer erbringt und um jede Unterstützung quasi betteln muss. Dabei ist es der Befreiungskampf der Ukraine, der aktuell verhindert, dass wir selbst Kriegspartei werden“, so Kiesewetter.
Scheinargumente der deutschen Regierung
Bei den Gesprächen unter anderem mit dem stellvertretendem Verteidigungsminister Andrij Witalijowytsch Schewtschenko wurde klar, dass die Offensive voran geht. Kiesewetter: „Wichtig ist insbesondere die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern, um russische Versorgungslinien zu durchbrechen. Warum der Bundeskanzler hier über militärtechnisch nicht sinnvolle Reichweitenbegrenzung diskutiert, versteht in der Ukraine niemand. Deutschland kann einfach wie dies Großbritannien oder Frankreich vereinbart haben, einen Vertrag mit der Ukraine mit Einsatzbedingungen abschließen. Die Ukraine hat sich an alle Vorgaben gehalten. Im Gegensatz zu Deutschland, das Lieferungen immer wieder mit Scheinargumenten verzögert."
Die ukrainische Bevölkerung ist zwar vom Bomben- und Drohnenterror erschöpft und trauert um unzählige Opfer, der Kampfeswille sei jedoch ungebrochen. Die Ukrainer wissen, dass sie nicht unter russischem Joch leben wollen. "Gerade die russische Besatzung heißt Mord, Folter, Vergewaltigung und Kindesentführung“, wurde bei den Gesprächen mit NGOs und Zivilgesellschaft deutlich.
Reformbemühungen der ukrainischen Regierung
Echte Reformbemühungen wurden bei weiteren Gesprächen im Außenministerium klar. Die Ukraine unternehme trotz der Belastung im Krieg massive Anstrengungen, um NATO-Vorgaben bei Standardisierung und EU-Beitrittskriterien zu erfüllen, teilt Kiesewetter mit. Im Winter werden erneut erhebliche Angriffe auf die Energieinfrastruktur erwartet. Oleksandr Kamyshin, Minister für strategische Industrie der Ukraine, arbeitet deshalb auch am Aufbau eines Schutzraum-Konzepts mit einheitlichen Standards und nach besseren Möglichkeiten an Ersatzteile und Instandhaltung zu gelangen, auch um bestehende Flugabwehr zu stärken.
Odessa als Wideraufbau-Hub
Mit dem Nachtzug ging es weiter zur Hafenstadt Odessa, wo noch wenige Stunden vor Ankunft erneut Angriffe auf die Hafeninfrastruktur stattfanden. Beim Gespräch mit der Regionalverwaltung in Odessa und mit den Verantwortlichen des Hafens wurde deutlich, wie essentiell ein Fortbestand der Getreidelieferungen und Möglichkeiten für ein Getreideabkommen sind. Kiesewetter: „Das ist essentiell für Wirtschaft und Liquidität der Ukraine und um Infrastruktur und Personal im Hafen behalten zu können. Odessa könnte vielmehr auch im Bereich des Wiederaufbaus eine entscheidende Rolle als Wiederaufbau-Hub spielen. Und der Wiederaufbauwille ist ungebändigt. Auch die durch Bombenangriffe teilweise zerstörte Verklärungskathedrale, Wahrzeichen von Odessa, befand sich bereits wieder im Aufbau. Die Sorge bei NGOs und Zivilbevölkerung ist eher, dass die Kriegsmüdigkeit in westlichen Ländern zu nachlassender Unterstützung auch beim Wiederaufbau führt.“
Von Odessa ging es über die Grenze weiter in die Republik Moldau. Zuletzt war Kiesewetter im März 2022 in der Republik, die mit einer aktuellen pro-europäischen Regierung an der Mitgliedschaft in der EU arbeitet. Kiesewetter wollte sich über die Entwicklung der Bedrohungslage und die Umsetzung von Sicherheitsreformen und Resilienzentwicklung informieren. Dabei konnte er mit Innenminister Afrian Efros, stellvertretender Verteidigungsminister Valeriu Mija und Oleg Serebrian, stellvertretender Premierminister der Republik Moldau und Minister für Reintegration sowie mit zivilgesellschaftlichen Gruppen und Parlamentariern und Rosian Vasiloi, Leiter der Grenzpolizei, sprechen.
Moldau: Reformen im Sicherheitsbereich angestrebt
Moldau hatte ähnlich wie Deutschland am 24. Februar 2022 ein sicherheitspolitisches Erwachen. Daraufhin hat die Regierung Sandu einige Reformen im Sicherheitsbereich eingeleitet insbesondere, um die Resilienz zu steigern, angesichts massiver hybrider Bedrohung durch Russland und die Lage der Republik neben der Ukraine und mit der militärischen Bedrohung aus dem russisch besetzten Transnistrien und dem beeinflussten Gagausien.
Wie in Deutschland auch, ist der Faktor Zeit ein Problem bei der Umsetzung der sicherheitspolitischen Wende der bislang neutralen Republik. „Der Regierung läuft die Zeit davon. Denn Zeit spielt nicht nur auf dem ukrainischen Schlachtfeld eine Rolle, sondern auch in Moldau nutzt Russland den Faktor Zeit, um Desinformationsoperationen durchzuführen und den hybriden Krieg in Moldau zu tragen und dort Strukturen zu festigen, die die Umsetzung der moldauischen Zeitenwende verhindern. Viele Parallelen zu Deutschland gibt es hier. Auch in Moldau fehlt insbesondere eine strategische Kultur und finanzielle Mittel, um echte Reformen in den Sicherheitssektoren durchzuführen.“
Kiesewetter: Gefahr der Manipulation durch Russland
Der hybride Krieg durch Russland arbeite gegen die Umsetzung der Reformen. Mit politischen Proxies in Gagausien, Transnistrien, mit Desinformation, durch Korruption, bezahlte Unruhen und die Medienkontrolle verfestigt sich der russische Einfluss im Staat und in der Bevölkerung. „Die pro-europäische Regierung arbeitet deshalb daran, eine „wehrhafte Demokratie“ zu schaffen mit verteidigungsbereiten Strukturen zur Abwehr des hybriden Krieges und zu Schaffung von mehr Resilienz. Aber der Zeitfaktor ist auch hier entscheidend angesichts anstehender Wahlen und der Gefahr der Manipulation durch Russland“, so Kiesewetter.