Als im Juni 1975 zwischen Heidenheim und Steinheim das 14-Millionen-Mark-Projekt Ziegelhof eingeweiht wurde, sprach der damalige Landrat Dr. Roland Würz von einer der „bedeutendsten überregionalen sozialen Einrichtungen im Landkreis Heidenheim.“ Die Evangelischen Jugendheime als Träger hatten dort Platz für die Heimbetreuung von mehr als 50 Jugendlichen geschaffen, aber auch Betreuer und Angestellte konnten auf dem abgelegenen Gelände in Mitarbeiterwohnungen unterkommen.
Unproblematisch war die Unterbringung von pubertierenden Jungen aus schwierigen Verhältnissen aber offenbar nicht: Zwei Jahre später erschien in der HZ ein Artikel über eine öffentliche Diskussionsveranstaltung mit Bürgermeister Dieter Eisele, dem Heimleiter Horst Geiling und Jugendlichen vom Ziegelhof. Zahlreiche Steinheimerinnen und Steinheimer waren gekommen, da es im Ort wohl Probleme mit den Jugendlichen, aber auch zahlreiche Vorurteile gegenüber den in der Bevölkerung als kriminell wahrgenommenen Heimbewohnern gab.
Die Gewalt blieb im Verborgenen
Innerhalb des Heims gab es aber offenbar eine Kriminalität ganz anderer Art, die von Erziehern ausging, und von der bislang nie etwas nach außen gedrungen ist: Detlev Schorn, der von 1977 bis 1978 als Jugendlicher auf dem Ziegelhof gelebt hat, berichtet von physischer und psychischer Gewalt, die von den Betreuern dort ausgeübt wurde. Er selbst habe sexualisierte Gewalt erfahren, die bei ihm bis heute Ängste und Zwangszustände verursachen würde, sagt der heute 61-Jährige.
Wenn wir dann zurückkamen, gab es Prügel.
Detlev Schorn, ehemaliges Heimkind (1977-1978)
Das Vorgehen der beiden Betreuer, die er als Haupttäter bezeichnet, schildert Schorn als sehr perfide: Anfangs hätten diese sich als sehr verständnisvoll gegenüber den Jugendlichen gezeigt. Sie luden zum Eisessen oder Kaffeetrinken ein, und man sei als Jugendlicher „stolz gewesen auf das Vertrauen“, erzählt Schorn. Wie empfänglich Jugendliche für eine solche Zuwendung sind, die keinen familiären Rückhalt haben und oft auch ohne elterliche Liebe aufgewachsen sind, kann man sich vorstellen.
Detlev Schorn: „Wir waren da drin nichts wert"
Für eine kurze Zeit seien die Erzieher so etwas wie ein Vaterersatz gewesen. Dann missbrauchten sie das Vertrauen, das sie sich erschlichen hatten, was durch die abgeschiedene Lage des Ziegelhofs und die Schlüsselgewalt, die die Betreuer hatten, noch begünstigt wurde, erzählt Schorn. „Wir waren da drin nichts wert“, sagt er heute. Dass nicht nur er, sondern auch mindestens ein anderer Jugendlicher sexuell missbraucht wurde, habe er zwar gewusst, aber „wir haben das nicht thematisiert“, erzählt Detlev Schorn. Stattdessen reagierten die Jugendlichen mit Rückzug, Suizidversuchen oder Weglaufen aus dem Heim. „Wenn wir dann zurückkamen, gab es Prügel“, so der 61-Jährige.

Den Trägerverein Evangelische Jugendheime gibt es seit 2009 nicht mehr. Damals stieg die Evangelische Gesellschaft Stuttgart als Gesellschafter ins Unternehmen ein, die Evangelischen Jugendheime wurden zur Eva Heidenheim gGmbH. Seit 2011 ist Matthias Linder Geschäftsführer in Heidenheim. Er berichtet, dass in seinen ersten Jahren mehrere ehemalige Jugendliche, die von physischer und psychischer Gewalt betroffen waren, den Kontakt zur neuen Geschäftsführung gesucht haben. Sie hätten von dem Leid berichtet, das ihnen in den 1970er- und 80er-Jahren in den Evangelischen Jugendheimen zugefügt wurde. „Die Gespräche wirken noch heute bei mir nach“, sagt Linder.
Wir sind damals mit den Betroffenen in die Aufarbeitung gegangen, soweit es uns möglich war.
Matthias Lindner, Geschäftsführer Evangelische Jugendheime Heidenheim
Jedoch seien die Taten aus der damaligen Zeit juristisch betrachtet verjährt. Auch seien heute keine Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen mehr bei der Eva Heidenheim beschäftigt, die aus diesen „dunklen Zeiten“ berichten könnten. Allerdings fand Linder ein sehr umfangreiches Archiv vor. „Wir sind damals mit den Betroffenen in die Aufarbeitung gegangen, soweit es uns möglich war“, sagt er. Das Archiv sei, um es dauerhaft zu sichern, dem Landeskirchlichen Archiv in Stuttgart überlassen worden. Die Übergabe wurde 2019 abgeschlossen. Ehemalige Jugendliche hätten die Möglichkeit zur Einsichtnahme, dies sei der Eva Heidenheim zugesichert und schriftlich vereinbart worden. Im Landeskirchlichen Archiv sind mehr als 2000 Klientenakten aus den Jahren 1942 bis 2019 gespeichert.
Kinderarbeit in Tuttlingen
Neben Detlev Schorn hat sich noch ein zweites ehemaliges Heimkind bei der HZ gemeldet: Die Geschichte von Edwin Benter hat jedoch nichts mit den Evangelischen Jugendheimen zu tun, sondern trug sich schon mehr als ein Jahrzehnt früher in einem Kinderheim in Tuttlingen zu. Edwin Benter war der Sohn einer alleinerziehenden Mutter, die in Heidenheim bei der WCM arbeitete. Mit acht Jahren kam er ins Kinderheim, wo er von Anfang an in der Landwirtschaft hart arbeiten musste, berichtet er – obwohl Kinderarbeit in diesem Bereich bereits seit 1960 verboten war. Auch Benter war körperlicher Gewalt und sexuellem Missbrauch ausgeliefert.
Er hat sich an die Stadt Heidenheim gewandt, bei der damals das zuständige Jugendamt angesiedelt war. Dieses sei dafür verantwortlich gewesen, die Besuche der Mutter im Heim zu genehmigen – was aber regelmäßig abgelehnt wurde. Edwin Benter war von 1961 bis 1966 im „Heim für hilfsbedürftige Kinder“ in Tuttlingen. Während dieser Jahre sei seine Mutter nur zweimal bei ihm gewesen. „Es gab keine Möglichkeit, mit ihr über die Missstände zu sprechen“, sagt der 73-Jährige.
Sowohl Edwin Benter als auch Detlev Schorn und ein weiterer dritter Betroffener, für den das Heidenheimer Jugendamt zuständig war, wurden aus dem Fond Heimerziehung in der Bundesrepublik entschädigt. Benter, der heute in Günzburg lebt, berichtet, er habe 5000 Euro bekommen sowie 5000 Euro in Sachleistungen. Dem steht eine schwierige Erwerbsbiografie gegenüber: „Ich wurde traumatisiert und ohne Ausbildung ins Leben geworfen“, sagt er. So wie ihm ging es vielen ehemaligen Heimkindern.
Angst vor erneutem Heimaufenthalt
Detlev Schorn, der im sozialen Bereich tätig war, ist aufgrund seiner psychischen Belastung mittlerweile erwerbsunfähig und sagt, er habe existenzielle finanzielle Sorgen. Bei vielen ehemaligen Heimkindern, die im Rentenalter sind, kommt noch eine andere Komponente hinzu: Sie fürchten sich davor, pflegebedürftig zu werden und dann noch einmal eine Heimsituation erleben zu müssen. „Es wäre mein Wunsch, dass den Menschen ihre existenzielle Würde zurückgegeben wird, damit sie in Ruhe alt werden können“, sagt Detlev Schorn.
Edwin Benter hat sich schriftlich bereits im Mai an Oberbürgermeister Michael Salomo gewendet. Antwort hat er keine erhalten. Mitte November schrieb er nochmal an die Stadt Heidenheim sowie an den Landkreis. Auch Mitglieder des Heidenheimer Gemeinderats haben Mails bekommen. Benters Wunsch: Dass auch die Institutionen – das früher bei der Stadt und später beim Landkreis angesiedelte Jugendamt – Verantwortung dafür übernehmen, was in der stationären Jugendhilfe so fundamental falsch gelaufen ist. „Wir wollen keine Entschuldigung, sondern eine Anerkennung der Fehler“, sagt Edwin Benter. Vor allem aber, so stand es im Anschreiben, wünschte er sich ein persönliches Gespräch.
Ein Angebot dafür gab es nicht. Eine Antwort hat Benter überhaupt erst Ende Januar von Landrat Peter Polta erhalten. Er schreibe auch im Namen von OB Salomo, so Polta. Man habe sich an den Kommunalverband für Jugend und Soziales (Landesjugendamt) gewendet und herausgefunden, dass es dort eine Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder gebe. An diese, so empfiehlt es Polta, solle sich Benter wenden. Von Verantwortungsübernahme auf lokaler Ebene keine Spur. Edwin Benter ist davon sehr enttäuscht: „Eigentlich ist das ein Skandal, wenn man bedenkt, wie mit Kindern unter Aufsicht der Jugendämter umgegangen wurde.“
Als Fürsorgeheim gegründet
Die Evangelischen Jugendheime Heidenheim wurden am 21. August 1908 als Verein gegründet, Ziel war die Eröffnung eines Waisenhauses. Das Gebäude an der Wilhelmstraße lag damals noch ganz am Rande der Stadt, es wurde 1910 als Fürsorgeheim Heidenheim eröffnet. Es handelte sich weder um eine städtische noch um eine staatliche Einrichtung, das Fürsorgeheim stand unter der Schirmherrschaft des Landesverbands der Inneren Mission. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehörten in Württemberg 60 Einrichtungen mit rund 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zur Inneren Mission. 1914 wurden die Werke der Inneren Mission zu einer eigenen Landesvereinigung zusammengefasst, deren Geschäftsführung bis 1945 bei der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart lag. Das Heidenheimer Fürsorgeheim wurde gegen Ende des Zweiten Weltkriegs beschlagnahmt und als Lazarett, dann als Altenheim und bis 1946 als Hilfskrankenhaus genutzt.