Heidenheims einzige Glocke von 1942 bis 1949 hängt in der Michaelskirche
Michaelskirche Heidenheim: hier treffen wir gleich, zumindest dem Namen nach, auf einen alten Bekannten. Es ist Wolfgang Neidhardt, von dem bereits bei der Visite in Hohenmemmingen die Rede war. Dort hängen, man erinnert sich, noch zwei Glocken des Ulmer Gießers auf dem Turm: eine von 1576, die andere von 1586. Auch interessant: Auf der älteren verewigte sich der Meister unter den Namen Neidthart, die jüngere signierte er mit Neidthardt. In der Heidenheimer Michaelskirche nun begegnet uns eine dritte Schreibweise des Nachnamens:
„zv gotes lob ehr vnd dienst geher ich wolfgang neidhardt in vlm gos mich anno 1592“
lesen wir auf der Glocke.
Es sieht demnach ganz so aus, als sei der 1599 in Ulm gestorbene Gießer zeitlebens mit der Schreibweise seines Namens auf Kriegsfuß gestanden. Vielleicht hatte aber sieben Jahre vor dem Tod des Vaters ja auch schon der ebenfalls Wolfgang gerufene Sohn nicht nur die Heidenheimer Glocke, sondern gleich den Nachnamen in eine neue, womöglich endgültige Form gegossen? Wir wissen es nicht.
Was die beiden Glöckner nach dem Aufstieg bis in den Glockenstuhl der Marienkirche in jedem Fall wissen, ist, dass es sich bei diesem um den bislang steilsten und engsten gehandelt hat. Dunkler als bislang gewohnt ist es auch. Aber die Taschenlampe von Arthur Penk ist schnell zur Hand und – wirft ihr Licht sofort auf das bis zu diesem Zeitpunkt nie gelüftete Geheimnis einer Generation von Lausbuben, die, das steht zu vermuten, wohl dem Mesner beim Läuten zur Hand gingen und in von diesem unbeaufsichtigten Momenten sich und ihre Namen mittels Kreide im Innern der Glocke verewigten. Die Namen seien an dieser Stelle weiter verschwiegen. Die Einträge, so viel sei verraten, stammen aus den 1950er-Jahren.
Erst kurz zuvor, nämlich 1949, war die Glocke wieder an ihren angestammten Platz zurückgekehrt, da sie zuvor für sieben Jahre nicht auf dem Turm der Michaelskirche, sondern auf dem der Pauluskirche gehangen hatte. Und zwar allein. Allein in Heidenheim, denn alle anderen Glocken waren 1942 abgeholt und auf einen der deutschen Glockenfriedhöfe gebracht worden, um auf das Einschmelzen zu warten. Die Vorzugsbehandlung, nicht eingezogen zu werden, verdankte die Neidhardt-Glocke letztendlich ihrem historischen Wert, der in einem Gutachten des Stuttgarter Glockengießers Heinrich Kurtz festgestellt worden war und sie schon im Ersten Weltkrieg vor der Zerstörung bewahrt hatte. Im Gegensatz zu einer Glocke aus dem 14. Jahrhundert, die bis August 1918 in der Michaelskirche geläutet hatte, um dann zerschlagen und für Rüstungszwecke abgeliefert zu werden.
Glocken und Kanonen
Womöglich als spätes Dankeschön für das segensreiche Gutachten bestellte die Gemeinde 1949 – bereits 1946 hatte die Marienkirche fünf neue Glocken erhalten – die vier dort heute hängenden neuen Glocken für die Pauluskirche bei der Stuttgarter Gießerei Kurtz. Auch die drei sich im Jahr 1959 zur Neidhardt-Glocke gesellenden neuen Glocken für die Michaelskirche lieferte die 1962 geschlossene Gießerei Kurtz, die übrigens auch Feuerspritzen goss, was gar nicht so ungewöhnlich war und in so manchem Glockengussbetrieb gängige Praxis. Auch die Gießer in früheren Zeiten hatten, je nach Konjunktur, Glocken, Kanonen, Brunnen, Gürtelschnallen und anderes mehr gegossen. Und es waren nicht zuletzt Glockengießer, die auch zu Uhrmachern wurden.
So wie die beiden Hohenmemminger, zieren auch die Heidenheimer Neidhardt-Glocke als Spitzen der Kronenbügel Köpfe, die eine Art Löwenmenschen darstellen, was ja wiederum in der hiesigen Region nicht nur in Bezug auf Glocken seit alters her ein beliebtes Motiv darstellt.
Apropos Krone: Die Krone der Glocke sitzt obenauf und dient zur Aufhängung. In der Michaelskirche hängen die Glocken zwar in einem alten Glockenstuhl aus Holz, darin aber überraschenderweise an stählernen Jochen, die wohl in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts angebracht wurden, als man auf modernere Baustoffe setzte. Inzwischen weiß man es besser und werden Stahlglockenstühle und Stahljoche wieder durch hölzerne ersetzt, da sich die moderne Form nicht nur als nachteilig für den Glockenturm als Gebäude, sondern auch für das Klangverhalten der Glocken erwiesen hat.
Ehe es nun laut wird und die immerhin 840 Kilo schwere Neidhardt-Glocke schlägt – ein g – muss erst Manfred Kubiak – nicht zur Strafe, nur zur Übung – noch einmal steil bis in den Kirchenraum hinab und anschließend ebenso steil und eng wieder hoch in den Glockenstuhl klettern, da er unten seinen Gehörschutz vergessen hatte, ohne den direkt unter den Glocken auch das schönste Läuten nicht auszuhalten wäre. Der Gehörschutz unserer Glöckner schluckt 15 Dezibel der Lautstärke weg, ohne dass sich dabei das Klangspektrum oder der Klangcharakter der Musikquelle ändert. Und dass es sich bei Kirchenglocken wie bei Orgeln um Musikinstrumente handelt, daran besteht für Kirchenmusikdirektorin Dörte Maria Packeiser, die die Glockentester zusammen mit Gertrud Schädler in der Michaelskirche begleitet, rein gar kein Zweifel. In der Pauluskirche hat die Kirchenmusikerin verschiedentlich schon die Glocken gemeinsam mit Chor und Orgel bei Konzerten eingesetzt.
Zwischen Erde und Himmel
Ansonsten aber dienen, wenn man so will, Kirchenglocken als Kommunikationsmittel zwischen Erde und Himmel und zwischen Kirche und Menschen. Wobei, seit es Glocken gibt, ihr Ton nicht nur die Andächtigen zum Gottesdienst und Gebet ruft, sondern auch den Morgen, den Mittag, die Nacht ankündigt oder, in früherer Zeit, die Bevölkerung bei einem Feuer alarmierte und in Kriegszeiten vor heranrückenden Heerhaufen.
Heute verfügen Kirchengemeinden über Läuteordnungen, die regeln, wann, wie oft, wie lange und zu welchem Zweck welche Kirchenglocken gemeinsam oder einzeln erklingen. Und auch wenn sich das wohl heute eher im Unterbewusstsein der Menschen abspielt, so regelt oder gliedert Glockengeläut sicherlich immer noch bis zu einem gewissen Grad den Tagesablauf. Eine in dieser Hinsicht vergleichsweise völlige Stille wie von 1942 bis 1949, als nur noch die Stimme einer Kirchenglocke in Heidenheim erklang, würde auch 2017 sicherlich sofort auffallen.